Hallo, ich heiße Jelena Stern und ich komme aus Nowosibirsk. Ich bin
Sibirierin. Nicht Russin. Warum? Wenn meine Urväter mütterlicherseits aus Polen,
Weissrussland und Burjatien, meine Urväter väterlicherseits aus der Ukraine
kommen, kann ich dabei Russin sein?
Ich bin in Sibirien geboren und großgeworden. Mein Herz ist hier, genau in der
Mitte des riesengroßen Landes namens Sibirien, in der Stadt, die
unverschämt jung ist, nur 119 Jahre alt.
Linden und Platanen in Berlin können über so ein Alter nachsichtig lachen: „soll das eine Stadt sein?“. Aber genau das ist Nowosibirsk. Es ist nicht so
wichtig für mich, dass es nach Moskau und Sankt-Petersburg die drittgrößte
Stadt in Russland ist, dass es als Hauptstadt Sibiriens gilt. Nowosibirsk heißt
wörtlich übersetzt „neues Sibirien“ und
eben das fasziniert mich an dieser Stadt.
Nowosibirsk ist neu für Sibirien in dem Sinne, dass es die einzige
sibirische Stadt ist, die noch im Zarenrussland nicht als Festung oder ein Ort zur Zwangsarbeit entstanden ist. Nowosibirsk ist das erwünschte Kind der
berühmten Transsibirschen Eisenbahn, von Eingeweihten Transsib genannt. Es ist die Stadt, die wegen der Brücke und um die Brücke herum an der
Transsib gebaut worden ist, und dieser
Geist der Brücke bestimmt den Lebensweg und den Charakter von Nowosibirsk.
Nowosibirsk ist sachlich, pragmatisch, aber auch gleichzeitig romantisch, und
das wiederspricht sich ganz und gar nicht. Wieso denn nicht? Die Stadt, deren
Geburt durch eine rein pragmatische Funktion bestimmt worden ist, kann und soll
nicht unpragmatisch sein. Aber der Geist von Leuten, die für Entstehung der
Transsib gesorgt haben, konnte auch nicht unromantisch sein, denn etwas Wertvolles,
Richtiges und absolut Neues für sein Land und sein Nachkommen zu schaffen, dabei auf den
Komfort des alten gewohnten Lebens zu verzichten und in die Taiga zu fahren,
das läuft irgendwo an der Grenze von Wahnsinn
und Romantik.
Momentan mache ich Urlaub auf der Krim, in einer alten kleinen tatarischen Stadt
Alupka. Wir leben hier einen Katzensprung von Woronzowsky Park und Woronzowsky
Schloss entfernt. Jeden Tag stoßen wir auf dem Weg zum Meer und zurück auf
Touristenscharen. Touristen aus Amerika, Deutschland, Russland, aus der Ukraine
kommen nach Alupka, um diesen wunderschönen Park zu besichtigen, an deren
Gründung 40 Jahre lang ein deutscher Gärtner gearbeitet hat. Das atemberaubend
schöne Woronzowsky Schloss wiederholt so
fein die Umrisse vom Berg Ai-Petri. Der Park und das Schloss sind echte Meisterwerke.
Aber einmal, nach der vierten riesengroßen
Touristengruppe, durch die wir uns mit Mühe durchgeschlängelt haben, fragt mich mein fünfjähriger Sohn, warum denn wir
in Nowosibirsk keine Touristen haben. Ich
wusste nicht gleich, was zu antworten ist, und deshalb habe ich ihn gefragt, ob
er das gut oder schlecht findet. Der hat sich ein paar Sekunden überlegt und gesagt,
dass so viele Touristen einen auf seinem Weg stören.
Nowosibirsk hat keine architektonischen Meisterwerke, die Touristen
faszinieren. Das Gesicht der Stadt ist sachlich, nicht mal berühmte russische Holzarchitektur
ist hier zu bewundern. Einige weniger Häuser
im Stadtzentrum zählen nicht, denn sie bestimmen nicht die Gestaltung der Stadt. Eher erinnern sie uns
daran, was Nowosibirsk in seiner Vergangenheit war, die eigentlich keine ist, denn 119 Jahre
für eine Stadt sind immer noch Gegenwart.
Die Architektur von Nowosibirsk kann also einem nicht den Atem berauben, wie es in Sankt-Petersburg der Fall ist. Und auf dem
Lenin-Platz laufen nicht als Lenin und
Stalin verkleidete Schauspieler, wie es oft auf dem Roten Platz in Moskau zu
sehen ist. So was Kitschiges anzubieten wäre für Sibirier peinlich. Was können
wir aber anbieten, damit einem das Herz dahin schmilzt, wenn es „Nowosibirsk“
hört? Meine Antwort wäre eine ganz einfache: Menschen sind unser Schatz, aber unser
großer Schatz, nicht Öl oder Gas, denn eben Menschen, die den Grundstein einer
Stadt legen, sind etwas, ja sogar sehr
viel, wert. Und wir, Nowosibirsker, sind
immer noch am Ursprung unserer Geschichte.
Ich bin mir absolut sicher, dass Begegnungen mit Menschen einem
bereichern, nicht Dividenden, Rendite und Renten von Bodenschätzen.
Menschen in Sibirien sind selbst für Russland was besonderes, denn bei so einem
rohen Klima, unter harten Umständen zu
leben und Mensch zu bleiben, ist eine Heldentat, die man jeden Tag begeht, ohne
es an die große Glocke zu hängen . Wir machen uns eigentlich keine Gedanken
darüber, dass wir eine Art Helden sind. Wir leben unser Leben und freuen uns
auf Begegnungen mit neuen Leuten.
Wie sieht es aber mit Touristen aus? Ehrlich gesagt, mag ich keine Touristen. Ich bin selber nicht
gerne eine Touristin. Touristen zu sein riecht nach Leichtsinnigkeit,
Wegwerfmentalität. Leute, die ständig mit der Kamera knipsen, aus dem Bus – oder
Zugfenster ein Land kennen lernen wollen, kommen bei einem Sibirier nicht gut
an. Das heißt ja aber nicht, dass
Touristen einen schlechten Service bekommen. Das nicht! Ein Double Tree
by Hilton bleibt auch in Nowosbirsk ein DoubleTree by Hilton. Viele Cafes bieten neben Wi-Fi russische, europäische, chinesische,
japanische, georgische Küche an. Unser Opernhaus mit 2 500 Sitzplätzen
wirft einen schon alleine mit seiner Größe um. Und prachtvolle Innengestaltung
unseres Hauptbahnhofs kann einem
Europäer den Atem rauben, der gewohnt ist, einen Bahnhof als Ort zur An- und
Abreise zu sehen. Sicher wird ein Reiseführer einer Touristengruppe aus 40-50
Leuten den auswendig gelernten Text über die Stadt am Ob erzählen. Aber das Wesentliche
bleibt für einen Touristen für immer ein
Geheimnis, und zwar die Seele der Stadt. Die Seele der Stadt bekommt man nicht
zu spüren, in dem man aus einem Bus in
den anderen springt oder schnell durch die Stadt läuft. Besonders die Seele von Nowosibirsk, der Stadt
mit vielen Plattenbaugebäuden, bleibt
für einen Touristen grau. Das ist der Trick der Stadt, den sie benutzt, um
leben zu können, ohne dass sie dabei Touristenscharen stören.
Hinter grauen Fassaden herrscht das
Leben, das eher nach innen als nach
außen gerichtet ist, denn draußen kann der Winter 5 Monate lang dauern, und das
soll nicht heißen, dass das Leben eingefroren werden muss, das Leben eines
modernen Menschen mit all seinen Bedürfnissen. Wenn Sie es schaffen, die Schwelle eines Büros,
eines Theaters, einer Gemäldegalerie oder einer Wohnung nicht als Tourist,
sondern als Gast zu betreten, bleiben Sie für immer in Sibirien, in Nowosibirsk
verliebt. Gäste werden beim obligatorischen Teetrinken schnell zu
Freunden, denn Tee erwärmt den Körper und Gespräche dabei erwärmen das Herz. Viele Deutsche, die in Nowosibirsk waren, und
nicht als Touristen, sondern zum Arbeiten oder zum Studium, erinnern sich nicht
an das Opernhaus, wenn es auch das größte in Russland ist, sondern an
Bekanntschaften und Freundschaften. Unsere wahre Gastfreundschaft gilt für
Freunde. Und den Touristen bietet man einen guten Service an. Das ist jetzt
Ihre Wahl, ob Sie nach Nowosibirsk kommen und wenn schon, dann als Tourist oder
Gast. Auf jeden Fall freuen wir uns auf alle Begegnungen.
Man sieht sichJ