Eine 34-jährige „einfache Münsteranerin“ hat Ende November
2012 ihren ersten langen Film „Tage die bleiben“ in Nowosibirsk vorgestellt. Mit ihm hat die Regisseurin Pia Strietman das 5. Festival des deutschen Films eröffnet. Zum langerwarteten Beginn des beliebten Festivals waren etwa 350
Leute gekommen, die Tickets im Voraus besorgt hatten, denn in den 5 Jahren, seitdem das Festival in Nowosibirsk präsent ist, musste man erfahren, dass sonst Tickets nicht zu
bekommen sind.
In Deutschland war dieser Film bisher kaum in den Kinos zu sehen.
Nur etwa 10 000 deutsche Zuschauer haben sich den Film angeschaut. Das
sind viel weniger als 1% der gesamten Bevölkerung Deutschlands. 350 Nowosibirsker sind auch viel weniger als 1% von den 1
500 000 Einwohnern der drittgößten Stadt Russlands. Das heißt, eine vergleichbare
Anzahl von Zuschauern hat sich mit dem Thema Tod und Vergebung in der Auffassung von Pia
Strietman vertraut gemacht. Im Laufe von nächsten fünf Tagen waren es aber noch einmal etwa
2000 Zuschauer, die sich weitere 14 Filme angeschaut haben, die German Films und das Goethe-Institut für Russland ausgewählt haben.
Nach der Vorstellung von „Tage die bleiben“ kamen die russischen Zuschauer
mit Tränen in Augen zu Pia und drückten ihr fest die Hand oder nickten ihr halt
dankend zu. Manche konnten auch auf Deutsch „vielen Dank“ sagen. Pia war beeindruckt von der Offenheit der Nowosibirsker und darüber, wie gut ihr Film angekommen war. Was
soll denn das bededuten, dieses Geheimnis von Nowosibirsk? Diese 2000 Zuschauer, die ein Interesse an Deutschland haben? Warum wollten sich
diese 350 Nowosibirsker neben "Sky Fall" mit dem coolen Daniel Craig noch diesen -alles
andere als unterhaltsamen - Film anschauen? Womit soll ich anfangen, um das zu
erklären?
Deutsche Präsenz in Nowosibirsk
Ist es so, weil wir in Nowosibirsk Lebensmittel bei Metro
Cash and Carry einkaufen? Und Haushaltstechnik beim SaturnMarkt? Und Jugendliche gerne
Schnäppchen beim New-Yorker machen? Oder ist es das Zusammenspiel von der
deutschen Wirtschaft, Kultur- und Bildungsinstitutionen, die in Nowosibirsk massiv präsent sind? Das Gebiet des Generalkonsulats hier in Nowosibirsk umfasst wohl die größte Fläche auf der ganzen Welt, die ein deutsches Konsulat betreut.
Über 60 Unternehmen, Mitglieder der deutsch- russischen AHK, mit deutschem Kapital bringen Deutschland auf Platz zwei der Partnerländer des Gebiets Nowosibirsk.
Giganten wie der DAAD, die Robert-Bosch-Stiftung, die Zentralstelle für das Auslandsschulwesen sorgen dafür,
dass immer mehr Jugendliche Deutsch als zweite Fremdsprache wählen, um ihr
Studium anschließend in Deutschland fortzusetzen und in Nowosibirsk dann die Brücke zwischen
Deutschland und Nowosibirsk weiter zu festigen. Und das nicht nur aus Patriotismus,
sondern weil das für viele eine Chance ist, schon mit etwa 24-25 einen festen
Job und tolle Aussichten für die Karriere zu haben.
Das Goethe-Institut hat 2009 ausgerechnet in Nowosibirsk sein drittes in Russland Büro eröffnet, und
seit der Zeit kommen immer mehr Projekte in Bereichen Kultur, Kunst, Architektur, Umwelt
in Schwung.
Was ist Nowosibirsk
Warum ist es ausgerechnet Nowosibirsk, wo sich
deutsche und russische Wege so aktiv kreuzen? Ich stelle eine
Gegenfrage „wo denn sonst?“. Manche Argumente liegen
auf der logischen Ebene: mit 1,5 Millionen Einwohnern ist Nowosibirsk die
drittgrößte Stadt Russlands, und als wissenschaftliches, wirtschaftliches und
kulturelles Zentrum Sibiriens ist Nowosibirsk die Haupstadt der Westsibirischen
Region.
Ein Gesichtspunkt, bei dem die Logik nicht weiter hilft, ist, dass sich hier noch vor 120 Jahren die endlose Taiga ausdehnte und keine Spur vom Leben eines Menschen zu entdecken war. Nichts versprach dem Ort eine glänzende Zukunft.
Wir, die Russen, neigen durch unsere Sprache und Kultur zum Mystischen. Ich bin da keine Ausnahme, wenn ich auch oft unterstreiche,
dass ich eher Sibirierin binm nicht Russin. Sehr viele Umstände forderten, dass die
Transsibirischen Eisenbahn gebaut werden sollte, und dass dann eine Brücke über den Ob dafür errichtet werden musste. Rein pragmatische Aufgaben waren das. Bloß bei den Menschen
spielen ihre Träume, ihre geistigen Bestrebungen immer mit. Ingenieure,
die vor 120 Jahren in Russland mehr als nur Akademiker mit technischer
Ausbildung waren, wollten auch weit weg von ihrem gewohnten Komfort ein
würdiges Leben führen, und so haben sie vieles in der kleinen Siedlung
Alexandrowskoje ins Leben gerufen, was später Nowosibirsk zu Nowosibirsk
gemacht hat.
Es gibt auch im Russischen ein Wort, dessen Stamm
„intelligent“ in vielen europäischen Sprachen vorkommt. Nur im Russischen
stellt Intellegenzija nicht auf den IQ ab, sondern bezeichnet die Zugehörigkeit zur sozialen
Schicht, die eigentlich das geistige Leben um sich herum vorantreibt. Eben
diese Schicht sollte gleich nach der Oktober-Revolution von der neuen Macht vernichtet werden. Sie hat es aber trotzdem geschafft, Wurzeln auch im neuen –
sowjetischen - Land zu schlagen. Unter anderem waren es Nachkommen von Gründern der Transsib, wenn auch indirekte, nämlich geistige. Letzteres spielt manchmal in Russland eine größere Rolle als die Blutsbande.
Das Erbe von Leningrad
Nowosibirsk hat viel
von dieser Gesellschaftsschicht mitbekommen. Der Zweite Weltkrieg war dabei eigenartigerweise behilflich. Schon
1941 bestand Nowosibirsk zu 25% aus Leningradern (so hieß damals
Sankt-Petersburg), die umgesiedelt worden waren. Es waren Musiker von der
Leningrader Philharmonie, Mitarbeiter der berühmten Eremitage und vom Peterhof, die Meisterwerke von diesen Museen nach Sibirien begleitet hatten.
Im Juli 1941 kam Schostakowitsch nach Nowosibirsk , um seine „Leningrader Symphonie“
aufzuführen. Davor wurde eine Vorlesung über Musik gehalten, zu der
600 Leute gekommen waren. Und das in der schwierigsten Kriegszeit, als die Musik eigentlich wenig Bezug zum Alltag derer hatte, die nicht an der Front waren, sondern in den Industriebetrieben "schufteteten", alles für die Front, alles für den Sieg, wie eine der Parolen hieß.
1944
konnten die Leningrader wieder zurück kehren, aber nicht alle haben das getan, weil
entweder ihre Wohnungen in Leningrad zerstört oder Familien während der Blokade
umgekommen waren. In Nowosibirsk haben sie ihre zweite Heimat gefunden. Diese
Menschen, Nachfolger der vorrevolutionären russischen Intelligenzija aus Sankt-Petersburg, dieser Wiege der russischen Kultur, sie
haben der sibirischen Stadt den Geist ihrer Heimatstadt vererbt. Das war die
zweite "Injektion" vorrevolutionären Geistes der russischen Kultur.
Bau von Akademgorodok
Die dritte bekam Nowosibirsk 1957, als hervorragende Wissenschaftler nach Nowosibirsk kamen, um Akademgorodok zu errichten,
wiederum an einem menschenleeren Ort, 30 km von Nowosibirsk entfernt. Der Bau von
Akademgorodok war von seinem geistigen Ursprung her vergleichbar mit dem Bau der Transsib. Wiederum in Sibirien, von Moskau und Leningrad weit entfernt, sollte ein großes und für das Land wichtiges Projekt verwirklicht werden. Es fand sich zunächst ein "verrückter" Wissenschaftler, Michail Lawrentjew , der zwei weitere "Verrückte", die Wissenschaftler Sergej Sobolew und Sergej Christianowitsch überredete,
nach Sibirien zu kommen.
Angefangen
hat Akademgorodok mit einem kleinen
hölzernen Haus, gebaut für Michail Lawrentjew. Der Mann, (in Kazan geboren, in
Moskau ausgebildet und promoviert) der heutzutage Visionär heißen würde, hat die
Stadt entworfen, in der das Wichtigste der Wald und die Natur waren, nicht die Bauten. Das
Leitprinzip war: kein einziger Baum sollte gefällt werden. Baukräne sollten
sich drehen, ohne dabei Bäume zu verletzen. Heute würde man sagen „Grünes Denken“, damals, 1958, nannte man es „verrückt“.
Das Leben in Akademgorodok, von Einheimischen „Akadem“ genannt, war für viele ein Traum, eine Stadt für 65 000 Leute, in der
praktisch nur Studenten der Nowosibirker Staatsuniversität, Wissenschaftler aus
unterschiedlichen Instituten lebten. Heiß geliebt wurde Akademgorodok
nicht nur wegen der schönen Wohnungen im Grünen und wegen der guten Versorgung (was in
Nowosibirsk an Lebensmitteln, Kleidung nicht aufzutreiben war, konnten
Akademgorodsker problemlos kaufen), sondern wegen der Atmosphäre, ein Kriterium, das
in Europa jetzt ein selbstverständlicher Begriff und sogar ein Argument in der
Werbung ist, in der Sowjetunion aber ein Fremdwort war und im
heutigen Russland teilweise immer noch eines ist, das wenig oder kein Gewicht hat.
Freiheit und moderne Kunst
Die
Atmosphäre in Akademgorodok machten ganz bestimmte Elemente aus, und
zwar konnte man hier seiner
Lieblingsarbeit nachgehen, für die man gutes Geld bekam und für die der
Staat alle Bedingungen geschaffen hatte. Und es gab hier einen Luxus, der kaum
sonst anderswo in der Sowjetunion zu finden war, das war die Freiheit.
Akademgorodok war damals nur der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften unterstellt, nicht aber den örtlichen
Strukturen, nicht einmal die Kommunistische Partei durfte sich hier einmischen.
Denn für Moskau war das Resultat wichtig, dass nämlich strategische Untersuchungen
rechtzeitig erledigt werden. Wie frei es in Akademgorodok zuging, kann
man daraus ersehen, dass die erste Ausstellung des verbotenen Malers Michail Schemjakin, und Ausstellungen von Robert Falk, Pawel Filonow im Kulturhaus der Wissenschaftler
stattfanden, ebenso Konzerte von verbotenen Sängern wie Alexander
Galitsch und Wladimir Wysotzky.
Perestrojka als Sintflut
Es war "cool", aus Akademgorodok zu kommen,
an der Nowosibirsker Staatsuniversität zu studieren, an den Instituten dort zu
arbeiten. Bis zur Perestrojka, als auf einmal Wissenschaftler weniger verdienten als
eine Firmen-Sekretärin. Die Wissenschaflter aus
Akademgorodok packten deshalb ihre Sachen, ihre Erfahrungen und ihr Ansehen und gingen nach
Amerika oder Europa. Das war keine Flucht. Noah war ja auch nicht geflohen, er hatte nur auf
seiner Arche die Sintflut
überstanden. Als die Umstände es zuließen, kehrten Akademgorodoksker
zurück, auf ihren angestammten Boden, nicht alle, aber viele.
IT-Branche als Gegenwart und Zukunft von Nowosibirsk
IT-Branche als Gegenwart und Zukunft von Nowosibirsk
Heutzutage hat Akademgorodok sein Ansehen zurückgewonnen,
allerdings in einem anderen Bereich, in der IT-Branche. Microsoft und Cisco jagen
nach klugen Köpfen unter den Studenten der Nowosibirsker Staatsuniversität bereits im ersten Studienjahr, um nicht zu spät zu kommen, denn die IT ist eine heiß begehrte Branche in Nowosibirsk, in der man tolle Arbeit in einem guten Team finden oder mit 25-27 nach einem
Startup schon Filialen in der ganzen
Welt haben kann. Das sind ganz reale Geschichte wie bei Dubl Gis, CFT, Alawar (casual games), Playtox, Mobisters und vielen anderen.
Nowosibirsk als Projekt der russischen Intelligenzija
IT ist der Ausdruck unserer Gegenwart, die auf einer glanzvollen Vergangenheit des sowjetischen Akademgorodok beruht und eine strahlende Zukunft verspricht, ohne große Worte über Kommunismus, Patriotismus oder ein starkes Russland. Nowosibirsk ist im städtebaulichen Sinn keine gewöhnliche Stadt. Es ist eher ein Projekt dreier Generationen der russischen Intelligenzija, das reiche Früchte trägt. Es ist eine Art "Kirschgarten" von Tschechow, aber nicht abgehozt, sonder nach Sibirien verlegt.
An Nowosibirsk kann man den Gesundheitszustand Russlands messen, sogar dessen Zukunft vorhersagen. Wir haben hier kein Öl, kein Gas, kein Gold, nichts von dem, was man häufig Russlands Fluch nennt. Wir haben nur uns selber. Und wie geht es uns dabei heutzutage?
Wir leben halt hier und sind stolz auf uns, unsere Stadt, in der wir unseresgleichen finden können und das nicht nur online, sondern auch offline. Man trifft sich gerne in den unzähligen Cafes, bei sich zu Hause. Man geht ins Kino, Konzerte, Theater, zu Ausstellungen. Man lebt hier ein interessantes, erfülltes, gefühlvolles Leben. Man kann hier europäisch konsumieren, aber auch seiner geistigen Natur nachgehen und etwas schaffen, was bis jetzt noch keiner gemacht hat. Dafür haben drei Generationen der russischen Intelligenzija gesorgt. Deshalb kann ich mich von dieser Stadt nicht trennen, wenn ich auch unheimlich gerne Berlin mag und die deutsche Kultur über Sprache und europäisches Denken aufgesogen habe. Aber ich gehöre hierher, in die Stadt, wo ich an der Zukunft mitgestalten kann.
Das Ende der Welt erleben
Nowosibirsk als Projekt der russischen Intelligenzija
IT ist der Ausdruck unserer Gegenwart, die auf einer glanzvollen Vergangenheit des sowjetischen Akademgorodok beruht und eine strahlende Zukunft verspricht, ohne große Worte über Kommunismus, Patriotismus oder ein starkes Russland. Nowosibirsk ist im städtebaulichen Sinn keine gewöhnliche Stadt. Es ist eher ein Projekt dreier Generationen der russischen Intelligenzija, das reiche Früchte trägt. Es ist eine Art "Kirschgarten" von Tschechow, aber nicht abgehozt, sonder nach Sibirien verlegt.
An Nowosibirsk kann man den Gesundheitszustand Russlands messen, sogar dessen Zukunft vorhersagen. Wir haben hier kein Öl, kein Gas, kein Gold, nichts von dem, was man häufig Russlands Fluch nennt. Wir haben nur uns selber. Und wie geht es uns dabei heutzutage?
Wir leben halt hier und sind stolz auf uns, unsere Stadt, in der wir unseresgleichen finden können und das nicht nur online, sondern auch offline. Man trifft sich gerne in den unzähligen Cafes, bei sich zu Hause. Man geht ins Kino, Konzerte, Theater, zu Ausstellungen. Man lebt hier ein interessantes, erfülltes, gefühlvolles Leben. Man kann hier europäisch konsumieren, aber auch seiner geistigen Natur nachgehen und etwas schaffen, was bis jetzt noch keiner gemacht hat. Dafür haben drei Generationen der russischen Intelligenzija gesorgt. Deshalb kann ich mich von dieser Stadt nicht trennen, wenn ich auch unheimlich gerne Berlin mag und die deutsche Kultur über Sprache und europäisches Denken aufgesogen habe. Aber ich gehöre hierher, in die Stadt, wo ich an der Zukunft mitgestalten kann.
Das Ende der Welt erleben
Das mag für einen Europäer komisch klingen, aber es
stimmt trotzdem. Die Stadt, die jemand aus Europa für das Ende der Welt halten kann,
bietet so viel an, wie zum Beispiel ein Konzert von Denis Mazujew, in dem er am 21.01.2013 im
größten Opernhaus Russlands am nagelneuen Steinway -Flügel spielen wird. Oder Anfang März wird es bei der „Nacht in der Metro“ ein Konzert der besten Musiker geben, die in der Metro musizieren werden. Jedes Jahr kann man Mitte Januar Schneeskulpturen bewundern, die während des internationalen Schneeskulpturen-Festivals geschaffen werden. Daran schließen sich sehenswerte Ausstellungen von Barbara Klemm oder Arno Fischer an. Nicht zu vergessen ist das Konzert der 12 Cellisten der Berliner
Philharmoniker und die „Messe“ von Bernstein, sowie das jährliche Festival zeitgenössischer Musik "Sibirische Saisons", dessen Name auf die berühmten "Russischen Saisons" hinweist, und vieles vieles mehr...
Bekommt man da nicht das Gefühl, das Ende der Welt ist irgendwo viel weiter weg? Und hier ist die eigentliche Welt, hier darf man sein?
Bekommt man da nicht das Gefühl, das Ende der Welt ist irgendwo viel weiter weg? Und hier ist die eigentliche Welt, hier darf man sein?
PS. Ich bedanke mich recht herzlich beim Herrn Kiesl und Herrn Schäfer aus dem Forum der russischen Kultur für Ihre Hilfe mit Tat und Rat bei diesem Bericht. Herr Kiesl, der 1.Vosritzende des Forums der russischen Kultur hat mich gebeten, im "Forum Report 2012" Nowosibirsk vorzustellen. So ist dieser Text entstanden. Inspiration braucht mal eine extra Einladung:)))
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