17.07.12

Das antitouristische Nowosibirsk

Hallo, ich heiße Jelena Stern und ich komme aus Nowosibirsk. Ich bin Sibirierin. Nicht Russin. Warum? Wenn meine Urväter mütterlicherseits aus Polen, Weissrussland und Burjatien, meine Urväter väterlicherseits aus der Ukraine kommen, kann ich dabei Russin sein?
Ich bin in Sibirien geboren und  großgeworden. Mein Herz ist hier, genau in der Mitte des riesengroßen Landes namens Sibirien, in der Stadt, die unverschämt  jung ist, nur 119 Jahre alt. Linden und Platanen in Berlin können über so ein Alter nachsichtig  lachen: „soll das eine Stadt sein?“.  Aber genau das ist Nowosibirsk. Es ist nicht so wichtig für mich, dass es nach Moskau und Sankt-Petersburg die drittgrößte Stadt in Russland ist, dass es als Hauptstadt Sibiriens gilt. Nowosibirsk heißt wörtlich übersetzt  „neues Sibirien“ und eben das fasziniert mich an dieser Stadt.
Nowosibirsk ist neu für Sibirien in dem Sinne, dass es die einzige sibirische Stadt ist, die noch im Zarenrussland nicht als Festung oder  ein Ort zur Zwangsarbeit entstanden ist.  Nowosibirsk ist das erwünschte Kind der berühmten  Transsibirschen Eisenbahn, von Eingeweihten Transsib genannt. Es ist die Stadt, die wegen der  Brücke und um die Brücke herum an der Transsib gebaut worden ist,  und dieser Geist der Brücke bestimmt den Lebensweg und den Charakter von Nowosibirsk. Nowosibirsk ist sachlich, pragmatisch, aber auch gleichzeitig romantisch, und das wiederspricht sich ganz und gar nicht. Wieso denn nicht? Die Stadt, deren Geburt durch eine rein pragmatische Funktion bestimmt worden ist, kann und soll nicht unpragmatisch sein. Aber der Geist von Leuten, die für Entstehung der Transsib gesorgt haben, konnte auch nicht unromantisch sein, denn etwas Wertvolles, Richtiges und absolut Neues für sein Land  und sein Nachkommen zu schaffen, dabei auf den Komfort des alten gewohnten Lebens zu verzichten und in die Taiga zu fahren, das läuft  irgendwo an der Grenze von Wahnsinn und Romantik.
Momentan mache ich Urlaub auf der Krim, in einer alten kleinen tatarischen Stadt Alupka. Wir leben hier einen Katzensprung von Woronzowsky Park und Woronzowsky Schloss entfernt. Jeden Tag stoßen wir auf dem Weg zum Meer und zurück auf Touristenscharen. Touristen aus Amerika, Deutschland, Russland, aus der Ukraine kommen nach Alupka, um diesen wunderschönen Park zu besichtigen, an deren Gründung 40 Jahre lang ein deutscher Gärtner gearbeitet hat. Das atemberaubend schöne Woronzowsky Schloss  wiederholt so fein die Umrisse vom Berg Ai-Petri. Der Park und das Schloss sind echte Meisterwerke. Aber  einmal, nach der vierten riesengroßen Touristengruppe, durch die wir uns mit Mühe durchgeschlängelt haben, fragt  mich mein fünfjähriger Sohn, warum denn wir in Nowosibirsk keine Touristen haben.  Ich wusste nicht gleich, was zu antworten ist, und deshalb habe ich ihn gefragt, ob er das gut oder schlecht findet. Der hat sich ein paar Sekunden überlegt und gesagt, dass so viele Touristen einen auf seinem Weg stören.
Nowosibirsk hat keine architektonischen Meisterwerke, die Touristen faszinieren. Das Gesicht der Stadt ist sachlich, nicht mal berühmte russische Holzarchitektur ist hier zu bewundern. Einige weniger  Häuser  im Stadtzentrum zählen nicht, denn sie bestimmen nicht  die Gestaltung der Stadt. Eher erinnern sie uns daran, was Nowosibirsk   in seiner Vergangenheit  war, die eigentlich keine ist, denn 119 Jahre für eine Stadt sind immer noch Gegenwart.
Die Architektur von Nowosibirsk kann also einem  nicht den Atem berauben, wie es  in Sankt-Petersburg der Fall ist. Und auf dem Lenin-Platz  laufen nicht als Lenin und Stalin verkleidete Schauspieler, wie es oft auf dem Roten Platz in Moskau zu sehen ist. So was Kitschiges anzubieten wäre für Sibirier peinlich. Was können wir aber anbieten, damit einem das Herz dahin schmilzt, wenn es „Nowosibirsk“ hört? Meine Antwort wäre eine ganz einfache: Menschen sind unser Schatz, aber unser großer Schatz, nicht Öl oder Gas, denn eben Menschen, die den Grundstein einer Stadt legen, sind  etwas, ja sogar sehr viel,  wert. Und wir, Nowosibirsker, sind immer noch am Ursprung unserer Geschichte.
Ich bin mir absolut sicher, dass Begegnungen mit Menschen einem bereichern,  nicht  Dividenden, Rendite und Renten von Bodenschätzen. Menschen in Sibirien sind selbst für Russland was besonderes, denn bei so einem rohen Klima, unter harten Umständen  zu leben und Mensch zu bleiben, ist eine Heldentat, die man jeden Tag begeht, ohne es an die große Glocke zu hängen . Wir machen uns eigentlich keine Gedanken darüber, dass wir eine Art Helden sind. Wir leben unser Leben und freuen uns auf Begegnungen mit neuen Leuten.
Wie sieht es aber mit Touristen aus? Ehrlich gesagt,  mag ich keine Touristen. Ich bin selber nicht gerne eine Touristin. Touristen zu sein riecht nach Leichtsinnigkeit, Wegwerfmentalität. Leute, die ständig mit der Kamera knipsen, aus dem Bus – oder Zugfenster ein Land kennen lernen wollen, kommen bei einem Sibirier nicht gut an. Das heißt  ja aber nicht, dass Touristen einen schlechten Service bekommen. Das nicht! Ein Double Tree by Hilton bleibt auch in Nowosbirsk ein DoubleTree by Hilton. Viele Cafes bieten neben Wi-Fi  russische, europäische, chinesische, japanische, georgische Küche an. Unser Opernhaus mit 2 500 Sitzplätzen wirft einen schon alleine mit seiner Größe um. Und prachtvolle Innengestaltung unseres Hauptbahnhofs  kann einem Europäer den Atem rauben, der gewohnt ist, einen Bahnhof als Ort zur An- und Abreise zu sehen. Sicher wird ein Reiseführer einer Touristengruppe aus 40-50 Leuten den auswendig gelernten Text über die Stadt am Ob erzählen. Aber das Wesentliche bleibt für  einen Touristen für immer ein Geheimnis, und zwar die Seele der Stadt. Die Seele der Stadt bekommt man nicht zu spüren, in dem man  aus einem Bus in den anderen  springt oder  schnell durch die Stadt läuft.  Besonders die Seele von Nowosibirsk, der Stadt mit vielen Plattenbaugebäuden,  bleibt für einen Touristen grau. Das ist der Trick der Stadt, den sie benutzt, um leben zu können, ohne dass sie dabei Touristenscharen stören.
 Hinter grauen Fassaden herrscht das Leben, das  eher nach innen als nach außen gerichtet ist, denn draußen kann der Winter 5 Monate lang dauern, und das soll nicht heißen, dass das Leben eingefroren werden muss, das Leben eines modernen Menschen mit all seinen Bedürfnissen.  Wenn Sie es schaffen, die Schwelle eines Büros, eines Theaters, einer Gemäldegalerie oder einer Wohnung nicht als Tourist, sondern als Gast zu betreten, bleiben Sie für immer in Sibirien, in Nowosibirsk verliebt.  Gäste werden beim  obligatorischen Teetrinken schnell zu Freunden, denn Tee erwärmt den Körper und Gespräche dabei erwärmen das Herz.  Viele Deutsche, die in Nowosibirsk waren, und nicht als Touristen, sondern zum Arbeiten oder zum Studium, erinnern sich nicht an das Opernhaus, wenn es auch das größte in Russland ist, sondern an Bekanntschaften und Freundschaften. Unsere wahre Gastfreundschaft  gilt für Freunde. Und den Touristen bietet man einen guten Service an. Das ist jetzt Ihre Wahl, ob Sie nach Nowosibirsk kommen und wenn schon, dann als Tourist oder Gast. Auf jeden Fall freuen wir uns auf alle Begegnungen.
Man sieht sichJ