19.12.12

Der Frost und Mephisto


       
        Seit über zwei Wochen habe wir einen richitgen Frost, bis -44. In der Stadt ist es relativ wärmer, wenn man annehmen könnte, dass 5 Grad da eine Rolle spielen könnten. Auf dem Lande, wo Abgаse die Luft nicht erwärmern, sind es -44. Die Städtler vergnügen sich mit -36-39. Bei so einer bissigen Kälte hat man wenig Lust, etwas draußen zu unternehmen, außer schnell von zu Hause zur Arbeit und zurück zu rennen. Shopping und Cafes verlieren auch an ihrer Attraktivität. Ich frage mich mal auch ganz ernst, ob ich wirklich einkaufen gehen soll, vielleicht ist es höchste Zeit, eine Diät zu halten. Aber dann verstehe ich, dass bei -36 mein Körper doch Energie braucht, um die Kälte zu bekämpfen.
          Nach etwa einer Woche von so einem Leben möchte man doch was schönes erleben. Und wenn man nicht gerne ausgeht, so richtet einer sein Leben drinnen ganz gemütlich ein, sei es auch sein eigenes Zuhause oder die Uni.
          So hat  eine Dozentin von der Nowosibirsker Medizinuniversität, ein Fan von unserem Opernhaus, eine Überaschung für ihre Studenten vorbereitet. Ganz ruhig hat sie die Vorlesung über ethische Probleme in der Eugenik und bei genethischen Manipulationen gehalten, dabei hat sie die Stellung der christlichen Kirche zur Verjüngung erwähnt und ihre Medizinstudenten an die Legende über Doktor Faust von Goethe erinnert.
Und da springt plötzlich ein Student im weißen Artzkittel auf und singt die erste Strophe aus der Oper "Faust" von Charles Gounod vor. Was dabei auffällt, ist es, dass die Stimme eingetlich zu schön für einen Medizinstudenten ist. Und es hat sich herausgestellt, dass es ein bekannter Opernsänger Karen Mowsessjan ist. Seinem Gesang schließen sich auch weitere Opernsänger an, die die Dozentin Julija Maximowa zu ihrer Vorlesung eingeladen hat.
Zu sehen ist das ganze hier, ab 0:33

Das war ein Flash-Mob des Opernhauses aus dem geistreichen Projekt "Wir besingen diese Stadt neu". So amüsieren wir uns, wenn es draußen kalt ist. Kalt draußen heißt ja nicht, dass das Leben erfriert. Da sind wir gezwungen, sich etwas einfallen zu lassen, damit der Geschmack des Lebens nicht vergeht.
Man sieht sich:))

04.12.12

Es hat geschneit. Es schneit. Es wird schneien.





       Es schneit wie verrückt. Seit Wochen. Vor zwei Wochen hat es an einem Tag rekordenweise genau so viel geschneit, wie sonst in drei Monaten. Und es schneit immer noch. Und es wird schneien, sicher wird es noch weiter schneien. Der Schnee liegt bei uns bis etwa Anfang oder Mitte April. Und wenn der Schnee da ist, so ist es der Winter. Wenn es auch erst Ende Oktober ist, oder auch Anfgang April. Man unterscheidet also den herbstlichen Winter, den winterlichen Winter und den Frühjahrswinter. Den winterlichen Winter zeichnet die Kälte bis -35-45 aus. Aber das dauert nicht lange. Die durchschnittlichen Temperaturen sind dann etwa -16-20. Aber da kommt die gute Nachricht, und zwar ist die Kälte trocken und ich persönlich finde unsere -20 viel angenehmer als -10 in Deutschland. Und die Sonne scheint oft, was viele Ausländer täuscht, die dann auf der Straße dadurch auffallen, dass sie keine Schapka aus gutem Pelz auf dem Kopf tragen, nicht mal eine Mütze aus Wolle. 
       Was tun wir gegen Kälte? Eigentlich wenig. Man zieht sich warm an und das finde ich auch schön. Ganze fünf Monate muss ich mir morgens den Kopf darüber nicht zerbrechen, was soll ich mir nun anziehen, denn die Antwort ist eindeutig, und zwar lautet sie "etwas warmes". Wenn es gaaanz kalt ist, so muss man sich an das Zwiebel- Prinzip erinnern, einige Schichten Kleidung halten die Wärme gut. Sollte es noch kälter werden, so hilft da ein guter Pelz, was bei -40 kein Luxux ist, sondern eine Notwendigkeit. Und was die Grünen dazu sagen würden, interessiert mich wenig. Auf Schuhe mit dicken rutschfesten Sohlen ist es  nicht zu verzichten. Manche, wenn nicht viele russische Frauen schaffen es aber,  auch im Winter tolle feminine Stiefel mit wahnsinnig hohen Absätzen zu tragen. Wie sie das hinkriegen, verstehe ich nicht. Aber so ist das.
         Tee trinken hilft auch gut. Oder lieber nicht Tee, sondern viel Tee. Tee mit Honig erwärmt noch besser. Der Honig sollte dabei lieber aus der Altaj-Region stammen, das sind fast Synonyme bei uns, Honig und Altaj. Und der Tee sollte lieber in der Teekanne aufgebrüht werden, Teebeutel wären eben falsch. Die sind zwar praktisch, aber der richtige Duft fehlt da. Tee ist sehr wichtig in unserer Kultur. Wir sind nicht Leute aus einer Kaffekultur, obwohl es in den letzen 10 Jahren Mode geworden ist, sich im Cafe zu einer Tasse Kaffee zu treffen. Wir sind Teetrinker und das tun wir nicht nur um five o'clock. Es wurde halt unter uns zu einer Art Begrüßung, wenn man seinen Besuch gleich an der Schwelle  fragt "wirst du Tee trinken?" Die richtige Antwort ist "ja". Und Tee heißt nur so "Tee", eigentlich gehören dazu belegte Brote, Suppe, Braten, Pirozhki u.s.w. Der Tee kommt am Ende. Und eine sehr wichtige Zutat für den richtigen sibirischen Tee ist ein warmes Gespräch, von Herz zu Herz. Das erwärmt sehr, ist  sogar lebenswichtig, wenn es draußen kalt ist. Gespräche beim Teetrinken halten uns zu einander fest, es ist eine Art von Sozialnetzwerken, die wir aufgebaut haben, als es noch kein Internet gegeben hat, nicht mal als Idee übers Internet.
       Was tun wir im Winter außer Tee trinken? Wir leben weiter. Man ist bloß auf das Leben drinnen oder auch auf das innerliche Leben angewiesen. Manche greifen zu  Bergskier und fahren nach Scheregesch, oder man greift  zu normalen Laufskier, oder auch zu Schlittschuhen. Ich greife zu Büchern. Es ist unheimlich gemütlich, diesen Unterschied zu beobachten, zu erleben, den Unterschied zwischen Kälte draußen und  Wärme drinnen, dem Schneegestöber draußen und der Ruhe drinnen. Und schön ist der Zusammenklang zwischen der Ruhe drinnen und der innerlichen Ruhe. Dunkel wird es im Dezember schon um etwa halb fünf. Und dann leuchtet mein Fenster gelb. Und viele andere auch. Und es ist ein Zeichen dafür, dass das Leben nicht stillgeblieben ist. Der Winter ist meine Lieblingsjahreszeit, die halte ich für eine sehr russische Jahreszeit, die uns zwingt, geduldig zu sein und gläubig zu werden, wenn auch nicht unbedingt kirchlich. Nur auf den ersten Blick ist alles tot. Nur wenn man sich das richtig überlegt, versteht man, dass unter ein-zwei Meter Schnee das Leben keimt, das noch nicht zu sehen ist. Man muss abwarten. Der Winter ist bloß eine Schnapppause, die sich die Erde nimmt, um sich zu erholen, Kräfte für den nächsten Sprung zu sammeln. Es ist nicht der Tod der Natur. Es ist ein Versprechen vom Leben, von der Auferstehung. Glauben wir denn deswegen so gerne?

17.11.12

Echter russischer Schatz oder wie ist die russische Seele zu verstehen

       Die wichtigste Entscheidung in meinem Leben habe ich im Frühling 1993 getroffen, 3 Monate vor Abitur, als ich verstanden habe, dass ich nicht Mathe studieren möchte, wie ich in den letzen 5 Klassen geglaubt hatte, sondern Deutsch. Ohne Deutsch wäre ich das nicht geworden, was ich jetzt bin. Deutsch hat mich, mein Leben in sehr vielen Hinsichten umprogrammiert. Und eine der wichtigsten Folgen dieser Umprorgammierung war es, dass ich verstanden habe, was eigentlich Russisch ist. Was heisst es, Russe zu sein, habe ich nur durch Deutsch verstanden. Wie komisch es auch klingen kann, stimmt das trotzdem. Da frage ich mich nur, ob sich alle Deutsche wirklich bewusst sind, was es heißt, Deutsche zu sein und über was für einen Schatz Deutsche verfügen? Ich meine jetzt nicht die gelebte Demokratie, sondern die deutsche Sprache. Ich habe das Gefühl, dass das richtige Bewußtsein seiner Zugehörigkeit zu einem Volk nur durch eine Fremsprache kommen kann, die eine total andere Struktur hat, einen total anderen Klang. Man flieht erst mal in die Fremdsprache, wie einer ins Ausland mit der Hoffnung auf das andere - beste -  Leben, um später zu seinen Wurzeln zu kommen, aber schon mit viel Einsehen, Liebe und Stolz.
      Deutsch wurde für mich langsam zum Spiegel, in dem ich mein eigenes Land, meine Sprache, meine Kultur gesehen und neu entdeckt habe.
       Ich unterrichte seit 16 Jahren Deutsch, erstmal an einer Uni, jetzt privat. Inzwischen habe ich mein eigenes methodisches System herausgearbeitet und mehrmals an über hundert Kursteilnehmern ausprobiert. Es basiert auf der Aussprache. Ich fange meinen Kurs nicht mit "ich heiße ...", "wie heißen Sie" oder "wie geht es?" an, sondern damit, dass ich einem beibringe, wie man Laute einer anderen Sprache artikuliert, wie anders als in der Muttersprache die Intonation steigt und fällt. Ich sehe, wie schnell bei meinen Kursteilnehmern die richtige Uhr zu ticken beginnt. Durch die Aussprache fließt  man in die Welt einer anderen Sprache rein, man taucht in dieses Meer eines anderen Lebens, des Lebens mit einem anderen Blickwinkel unter.
     Ich bin da mit der Zeit zu einer merkwürdigen Beobachtung gekommen. Berühmte (mindestens in Russland) deutsche Ordnung fängt nicht mit der sauberen Straße an, sondern mit dem deutschen Satz. Festgelegte Wortfolge lässt einen die erst dann verletzen, wenn der Fall den Sprecher dazu zwingt, wenn man etwas hervorheben möchte. Deutsche wagen es, die Regel zu verletzen, um Emotionelles voranzurucken. Man jongliert nicht so frei mit der Wortfolge wie im Russischen. Man baut Wort für Wort, jedes Teilchen steht da, wo es die Regel  vorschreibt, wenn die auch nicht schriftlich festgelegt ist, wenn auch der deutsche Muttersprachler die nicht ganz genau kennt. Vielleicht  liegt da die deutsche Qualität, die zur Verkörperung der qualitativsten Qualität geworden ist? Ein deutsches Auto fährt lange auch ohne Wartung, weil alle Teile an einander aufs engste anpassen, wie Wörter in einem deutschen Satz. 
        Deutsche im Vergleich zu Russen sind sehr aufmerksame Zuhörer. Ob sich alle Deutsche dessen bewußt sind, dass halt die Sprache sie dazu verpflichtet? Man muss ja immer auf das Satzende aufpassen, wo mal eine Verneinung vorkommen kann, mal ein zweites Verb oder sich ein Präfix vom Verbstamm verabschiedet hat.
         Ich habe das Gefühl, dass Deutsche Weltmeister in Fragen technische Errungenschaften sind, sei es eine Druckmaschine oder ein Röntgenapparat. Dass so viele Technische Erfindungen aus Deutschland stammen, hat für mich eine auf den ersten Blick   komische Erklärung. Da ist wiederum die Sprache im Spiel. Wenn man sich ans Thema deutsche Aussprache macht, so muss man als erstes erklären, dass Vokale im Deutschen kurz oder lang sind und dass es ein sinntragender Unterschied ist. Beim Hören  soll "Staat"  nicht mit "Stadt" verwechselt werden. Und "Kahn" mit "kann". Als ich an der Uni an der deutschen Aussprache geschliffen habe, musste ich halt in mich hinein bis 2-3 zählen, damit der lange Vokal richtig lang ausfällt. Ich habe also gezählt, die Dauer des Vokals gemessen, und Technik ist eben das, was zu messen ist.  Gute Maschinen werden da gut, wenn alles korrekt gemessen ist und nicht ein einziges Mal, sondern systematisch. Wäre denn die Trennung in lange und kurze Vokale nicht eine Voraussetzung für Deutsche, in der technischen Revolution Vorreiter zu sein? 
     Noch Joseph Brodsky -  russischer Poet, amerikanischer Bürger mit judischen Wurzlen, Nobelpreisträger -  hat in einem Essey geschrieben, dass Gedichte aus einer Sprache in die andere nicht zu übersetzen sind, nicht nur wegen des Wortschatzes und der grammatischen Struktur, sondern eher wegen der Prosodie, des melodischen Verlaufs der Sprache. Die Melodie einer Sprache ist laut Brodsky die Art und Weise, den Raum zu gliedern, ihn zu bewohnen, sich ihn anzueignen. Deutsch hat sich seinen Raum angeeignet, in dem es ihn phonetisch bemessen  hat, grammatisch strikt zugeordnet, lexikalisch ganz logisch und transparent benannt. "Dessert" zum Beispiel heisst mit einem deutschen Wort "Nachtisch", weil dies Essen zu sich wirklich danach genommen wird, wenn der Tisch aufgeräumt ist, also nach dem Tisch.
             So ist Deutsch für mich halt zum Denkmal des vernünftigsten Umgangs mit Leben geworden. Bloß eine Anmerkung in der allerersten Stunde meines phonetischen Kurses fällt  gleich, und zwar sage ich immer, dass die Artikulation deutscher Laute viel mehr angespannter ist als die der russischen. Artikulation von russischen Lauten ist total entspannt, die Intonation schwebt in der Luft und bleibt mal hängen, mal fällt sie runter an einer komischen Stelle. Sprechorgane eines Russen sind faul. Wenn ein Deutscher das russische Wort "moloko" (Milch) sieht, so fängt der auch ganz brav an, es Laut für Laut so vorzulesen, wie es geschrieben ist. So guckt dann ein Russe verwundert diesen Deutschen an, denn richtig ausgesprochen wird das Wort dann eben als "malako". Die unbetonten Vokale haben ihre Qualität verloren. Ist das nicht die Erklärung dafür, warum ein Lada nie im fernen Ausland so begehrt wie ein VW wird? Und wäre nicht das eine Erklärung dafür, warum wir uns so sehr mit der Demokratisierung schwer tun? Der unbetonte Vokal verliert an der Qualität, nur der betonte zählt.
                   Der Höhepunkt der totalen Entspannung im russischen Leben ist der Vokal "ы", der zum Beispiel in der ersten Silbe des Familiennamens Bykow ausgesprochen wird. Das ist der tykischste Laut für einen Ausländer. Vielleicht sollte da ein kleines bißchen Alkohol helfen, sich zu entspannen, damit der Vokal richtig entspannt ausfällt?
           Aber dass unsere Sprechorgane so faul sind, hat da einen Vorteil, wenn wir uns an eine Fremdsprache machen. Ich habe mehrmals von deutschen Dozenten gehört, dass es Russen sind, die akzentrei sprechen können. Faule Sprechorgane können es mal lernen, sich angespannt zu bewegen und dadurch eine beliebige, aber wirklich eine beliebige Aussprache akzentfrei zu beherrschen. Kann denn ein Deutscher das verlernen, angespannt Laute auszusprechen? Sich nicht richitg  entspannen zu können hat die europäishe Welt zur Psychanalyse gebracht. Oder war der Grund dazu ein anderer? Lustig ist für mich nur bei einem einzigen deutschen Laut, und zwar bei "h", einem Russen, der schon gelernt hat, gut genug seine Sprechorgane anzuspannen,  nun zu erklären, dass er sich entspannen muss, sonst kommt endweder ein Ach-Laut oder ein Ich-Laut hervor, was falsch wäre. 
                Das mit "moloko", welches als "malako" ausgesprochen wird, kommt da bei einem Ausländer nicht die Frage, woher soll denn ein Russe wissen, wie das Wort eigentlich korrekt geschrieben werden muss? Und da kommen wir eben zum Titel dieses Artikels. Nur ein gebildeter Russe kann richtig dieses und viele andere Wörter schreiben. Richtig gebildet wird man bei uns nur durchs Lesen. Man kann als gebildet zählen, aber beim Schreiben kommt die Wahrheit ans Licht. 
                 Bei manchen Wörtern muss man sich halt prägen, wie sich die schreiben, bei anderen muss man für einen unbetonten Vokal so ein stammvervandtes Wort finden, wo der Vokal in der starken, also in der betonten Position vorkommt, und da soll wiederum der Wortschatz ziemlich reich sein. Erklärt denn nicht eben das, warum russische Literatur weltberühmt ist, weil wenn einer schon ein Mal das stammverwandte Wort gefunden hat, dann noch Mal und noch Mal und da ist schon "Idiot " oder "Anna Karenina" fertig?
            Der echte russische Schatz wäre der  Wort-Schatz, also Russisch, und darunter eine der größten Perlen sind Suffixe, die einem Wort so viel von der subjektiven Weltwahrnehmung verleihen, dass für die Objektivität wenig oder kein Platz bleibt. Man nimmt halt einen Stamm von einem Wort und reiht dazu ein Suffix hinten dran und da ist schon klar, wie der Sprechende zur Welt steht, die er in einem Satz eben beschrieben hat. Als Gegenargument reiht man da zu demselben Stamm ein anderes Suffix ran und der Vis-a-Vis weiß nicht mehr, was zu antworten, wenn der nicht über einen reichen Wortschatz verfügt. (bei uns heisst so einer "er greift  nach den Wörtern nicht aus der Tasche", d.h. er muss die nicht in einem Wörterbuch suchen, sondern kann die schnell auf Bedraf aus dem Kopf gleich herausfischen) Wie kann denn ein kleines Suffix  so viele Gefühle beherbergen, die ein russischer Muttersprachler aber gleich abliest? Ein Suffix ist nicht einmal ein Redeteil. 
       Wir können übrigens unsere Vokale auch dehnen, und Konsonanten dazu, wenn wir besonders expressiv unsere Gefühle ausdrücken möchten. Diese Quantität ist zwar nicht sinnunterscheidend, verleiht aber den Gefühlen noch mehr Gewicht. Und sind es denn nicht Gefühle, die den Sinn des Lebens ausmachen?
           Was den Sinn eines Wortes bei uns unterscheidet, ist die Weiche und die Härte. Ein Konsonant, gleich geschrieben, kann abhängig von umgebenden Vokalen weich oder hart ausgesprochen werden und dadurch kommt es zu einem anderen Sinn. Das ABC enthält dazu noch extra ein Weichheitszeichen (ь) und ein hartes Zeichen (ъ). Können denn die Härte und Weiche gemessen werden? Vieilleicht, aber nicht in diesem Fall. Man bekommt das nur zu spüren, zu fühlen. Und da kommen wir wiederum zu dem Grund, warum Russen so empathisch sind. Es ist die Sprache, die  uns dazu verpflichtet. Russisch hat seinen Raum, diese unendlichen Weiten, mit einer schwebenden Intonation, harten und weichen Konsonanten gegliedert. Das Land ist riesengroß, es lohnt sich nicht, in die Sprache eine Einheit einzuführen, um es zu bemessen. Und viele Ausländer tun sich total schwer, russische Konsonanten genau richtig hart und weich auszusprechen, da bleibt die Härte immer herauszuhören. Die russische Sprache hat ja dafür gesorgt, dass wir nie verlernen, zu fühlen. Wir hätten nicht Öl exportiren müssen, sondern unsere Sprache und unsere Fähigkeit, zu fühlen. Ich vermute, das fehlt jetzt irgendwie in der ganzen Welt.
          Wie ist die geheimnissvolle russische Seele zu verstehen? Leider nur durch die Sprache, durch unsere Literatur, Filme, lieber im Original. Aber Russisch hat schon dafür gesorgt, dass nur derjenige es schafft, der das als Ziel festgesetzt hat. Man lernt Russisch nicht aus purem Interesse, sonst scheitert man da schnell. Man lernt Russisch eher deswegen, weil man ein Geheimnis lösen möchte. Und das sind wenige auf der Erde. Nicht viele Ausländer schaffen es, sich zu entspannen. Wenn schon, dann muss man Kraft und Mut haben,  im anscheinenden Chaos grammatische Regeln zu finden, die mit so viel Ausnahmen versehen sind, dass diese praktisch die Regeln abschaffen. Wenn man auch das hinter sich hat, so muss man dann mit der Rechschreibung kämpfen, in dem man viel liest. Und erst dann, mit villeicht etwa  über 70, begreift man endlich, was es heißt, Russe zu sein, weil man es selber geworden ist. Wie viele schaffen es? Ich persönlich kenne drei Deutsche, die wenigstens akzentfrei Russisch sprechen. Und die wollen komischerweise nicht nach  Deutschland zurück. 
      Wie hat denn Deutsch mich umprogrammiert? Meine Gefühle haben dank Deutsch eine Bahn bekommen, ich greife auf die Härte der deutschen Logik zurück, wenn ich das brauche.Und ziehe unter die weiche Decke von Gefühlen zurück, wenn die Logik zu sehr in meinem Leben vorreitet. So einfach funktioniert es bei mir, wie bei einem Zugvogel, der zwei Heimaten hat.



15.11.12

6 Millionen Menschen in den USA haben auf die IT-Lösung aus Nowosibirsk während der Präsidentenwahlen zurückgegriffen

             Ein Nowosibirsker IT-Unternehmen, EastBanc Technologies, hat auf den Auftrag von PEW eine Cloud-Lösung Polling Place Locator für die Präsidentenwahlen in den USA am 06.11.2012 entwickelt. Amerikanische Wähler konnten ihre Adresse auf Facebook angeben und dadurch hat man die genaue Adresse vom Wahlstandort in der Gegend bekommen und eine Liste von Dokumenten, die man dabei haben muss. Die Los Angeles Times hat diese Lösung eine der nützlichsten Entwicklung auf  Facebook an diesem Tag gennant.
           Tja, kein Wunder eigentlich, dass IT-Leute aus Nowosibirsk auf die Weise etwas zu den Wahlen in den USA beigetragen haben. Die IT-Branche aus Nowosibirsk hat einen sehr guten Ruf in ganz Russland und nicht nur. Microsoft, Cisco jagen hinter klugen Köpfen her, wenn die  an der NSU erst immatrikuliert werden, sonst ist man zu spät, und diese klugen IT-Köpfe werden für die Konkurrenz arbeiten. Die NSU, 1959 gegründet, ist  ein genauso so wichtiges Symbol für Nowosibirsk wie das Opernhaus , wenn auch nicht bedeutender. Nicht jeder in Russland kann wissen, dass das größte Opernhaus Russlands in Nowosibirsk liegt. Aber noch in der Sowjetunion, als man "Nowosibirsk" gehört hatte, konnte dann einer nachfragen "ach ja, Nowosibirsk ist das, was bei Akademgorodok mit der NSU liegt".
          Die NSU ist eines der Kinder vom berühmtesten Akademgorodok, und was sie eigentlich für uns, Nowosibirsker, heisst, kann man an so einem Beispiel erklären, und zwar wir haben in der Stadt etwa 32 Universitäten und Hochschulen insgesamt. Und nur bei einer darf man sagen "ich habe die Uni absolviert", ohne zu nennen, was für eine das war, denn nur die NSU heisst in der Nowosibirsker Umgangssprache "DIE Uni".
           Eben von dieser Uni kam Ende 80-er ein in der ganzen Sowjetunion total populärer Witz "liebe Partei, lass uns auch ans Steuer". Heutzutage wäre das in Sozialnetzwerken zu einem Mem geworden, vielleicht auch schnell vergessen. Da wir damals durch KWN vernentzt waren,  ist dieser Witz bis jetzt in meinem Gedächtnis geblieben, obwohl ich damals etwa 12-13 war. Aber der Witz, auf dem Ersten Kanal (dem ersten von zwei für ganzes Land) übertragen, war so frech, dass man sich auch als Teenager das irgendwie merkt und durch ganzes Leben als Motto mitnimmt.

27.10.12

es weihnachtet.....














Seit 2006 findet in Nowo der deutsche Weihnachtsmarkt statt. Zuerst haben das nur unter sich Deutsche organisiert, die in der Stadt leben und die ihr gewohntes Leben hier einrichten wollten. Dann aber wuchs das ganze, und im vorigen Jahr hat es schon etwa 1 000 Besucher gegeben. 2012 hat sich das Weihnachtsteam  an die Arbeit schon Anfang Oktober gemacht. Wir suchen Leute, die bereit sind, den Geist von deutschen Weihnachten für einen Tag in Nowo zu bringen. Diesmal soll es also der 02.Dezember sein. Es heißt für uns viel Arbeit. Aber auch ist der Spaß daran. Und Kinder vom Waisenhaus, das  unter Fittichen von Caritas steht, werden sich über Geschenke freuen, denn der ganze Erlös vom Markt geht für die. Und das ist gut so.

Nowosibirsk als Geschäfts - und Handelszentrum

Ich habe schon geschrieben, dass Nowo als Verkehrsknotenpunkt entstanden ist. Dazu ist mit der Zeit auch die  Funktion als Kultur - und Wissenschaftszentrum Westsibiriens gekommen, aber der Handel bleibt nach wie vor wichtig für die Stadt. Am 31.01.2012 wurde ein neues Messegelände eingeweiht. Mit 40 000 Quadratmeter Ausstellungsraum und 5 000 Parkplätzen ist es das größte Messegelände vom Ural bis zum Fernen Osten. Fotos sind hier zu sehen http://gelio-nsk.livejournal.com/178364.htm
Apropo hieß die erste Messe im neuen Messegelände SibBuild, an der eine große Delegation aus Deutschland zu treffen war, wo Christian Hennecke, Architekt und Mitgründer von CULTUREBRIDGE ARCHITECTS einen Vortrag über Niedrigenergie gehalten hat. Es hat sich halt so ergeben in meiner Stadt, dass Deutsche hier nicht wegzudenken sind. Deutsche Spuren sind überall und angefangen hat das noch lange her. So hat es zum Beispiel das erste deutsсhe Generalkonsulat  schon 1923 gegeben. Vielleicht erklärt das, warum so sehr populr bei uns Deutsch ist. 

24.10.12

Das größte Opernhaus Russlands online

Das bekannteste Theater Russlands liegt in Moskau und heißt "das Bolshoj Theater", wörtich übersetzt "das Große Theater". Aber die Zeit, als dieses Theater am Theatralnaja Platz in Moskau, gebaut 1825, als größtes in Russland galt, war noch 1941 vorbei, als ein Theatergebäude in Nowosibirsk fertiggebaut worden  war. Eröffnet weden sollte es am 01.August 1941, aber wegen des Zweiten Weltkrieges (der bei uns der Große Vaterländische Krieg heißt) wurde es erst  am 12.05.1945 eröffnet. Ganze 4 Jahre wurde das Opernhaus in Nowosibirsk zur teuersten Schatzkammer Russlands, die  die Schätze  von der Hermitage,  Tretjakowsky Gemäldegalerie,  Peterhof, einschließend Elemente vom Bernsteinzimmer, beherbergt hat.
Bis 2005 war unser Opernhaus mit seinen 2500 Sitzplätzen das größte  Opernhaus Russlands und seit 2005, als alle Renovierungsarbeiten durchgeführt worden waren (mit Hilfe deutscher Ingenieure), ist es auch das modernste Opernhaus Russlands, d.h. ausgestattet nach höchsten Standarts.
Ab dem 20.Oktober 2012 kann man sich alle Aufführungen online anschauen. http://paraclassics.com/novosibirsk-adolphe-adam-corsaire-igor-zelensky/ . Diese Möglichkeit schafft natürlich nicht einen "offline"-Theaterbesuch ab, denn sonst hat man keine weitere Gelegenheit, sich das Abendkleid anzuziehen und in der Pause einen Sekt zu trunken:)))

Details: on-line haben sich die Aufführungen des Nowosibirsker Opernhauses über 30 000 Leute aus 880 Städten in ganzer Welt angeschaut, in 75 Ländern. Bewohner aus 120 Städten Russlands haben diese Möglichkeit besucht. 60% aller on-line-Zuschauer stammen aus Russland, 20% stammen aus Europa und 20% stammen aus den USA und Asien.

09.10.12

Goethe und Nowosibirsk: Drang nach Wissen

       Da stehe ich neulich in einer Buchhandlung, Mythen des alten Griechenlands für Kleinkinder unterm Arm und warte, bis ich an die Kasse gelange. Das ist eine ganz gewöhnliche kleine Nowosibirsker Buchhandlung. Vor mir steht ein junger Mann, etwa 30, in einem guten Anzug, aber ohne Krawatte. Der sieht nach einem Sale-Manager aus, ein sehr typischer Beruf für meine Stadt. Zu erwarten wäre von ihm die Frage "hätten Sie was zur russischen aktuellen Steuergesetzgebung" oder "Hätten Sie was über erfolgreiche Strategien in der Kundenauqisition". Oder auch könnte er einen teueren Kuli-Set als Geschenk für seinen Kollegen kaufen. Aber da höre ich etwas, was man nicht gleich glaubt und zwar:

-Hätten Sie "Faust" von Goethe?

      Hm, habe ich mich geirrt und soll das vielleicht ein Student von der Fremdsprachenfakultät sein? Aber der Anzug ist echt zu teuer für einen Studenten. Und mit 30 Student sein ist bei uns so gut wie unmöglich, denn mit dem Studium ist man bei uns mit 21 oder 22 fertig. Das ganze ging mir schnell durch den Kopf und ich habe nicht mal den Gedanken bis zum Ende gebracht, als ich die Antwort von der Verkäuferin höre:

- wir haben ein paar Exemplare neulich bekommen, aber die waren schnell vergriffen. Wir haben beim Großhädler noch welche bestellt. Kommen Sie in ein paar Tagen vorbei oder schauen Sie auf unserer Homepage.

       Tja, soll es in Nowosibirsk eine Goethe-Epidemie geben, oder?
      Aber da fällt mir ein Bericht von einer Sibireinreise eines deutschen Schriftstellers, Hans Pleschinski, ein, wo er dieses auch für einen Deutschen komische Phänomen beschrieben hat http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/literatur/konfekt-aus-der-tundra-1.17469073#nzzformat

       Das ist keine Epedemie an sich, das ist bloß der Drang nach Wissen, bestimmt von 32 Universitäten, die in der Stadt präsent sind und die langsam das Bildungsniveau meiner Landsleute steigern. Schließlich lese ich für meinen Sohn als Gute-Nacht-Geschichten nicht Comics über Sponge Bob vor, sondern Mythen des alten Griechenlands. Mein Sohn ist nun 5. Was wird er wohl mit seinen 30 in der Buchhandlung nachfragen?:)))

26.09.12

flash mob auf Nowosibirsker Weise

Am 16.09.2012 war in Nowosibirsk , direkt im Stadtzentrum, am Leniniplatz vor dem Opernhaus ein Flash Mob durchgeführt, organisiert von Staatlichen Akademischen Russischen Folkorenchor Sibiriens. Mehrere Jugendliche, auch die Polizei haben mitgemacht. Zu sehen ist das ganze hier, bei youtube http://www.youtube.com/watch?v=BMRRZyZeM34

15.09.12

Eine Welt dazwischen

     Neben Unterrichten dolmetsche ich ab und zu und immer wieder stoße ich darauf, dass manches nicht zu dolmetschen ist. Es geht dabei nicht darum, dass ich die Vokabeln nicht kenne, sondern eher, dass diese Vokalbeln die Welt beschreiben, die einem Nichtmuttersprachler total fremd ist. Es geht viele Bereiche an. Das kraßeste Beispiel wäre das Verb, das die Tätigkeit beschreibt, wenn man einen in der Banja mit einem Birkenbesen klopft. Ich stottere halt an diesem Verb "klopfen", eben in der Kombination mit "Birkenbesen". Da kann einer denken, das sei doch doof, einen zu klopfen, ist doch kein Teppich der Mensch da. Im Russischen heisst das парить  oder parit, das "t" dabei soll weich ausgesprochen werden, keinesfalls hart. Und dieses "parit" mit dem weichen t gibt es im Russischen zwei Mal, jeweils mit Betonung auf der ersten und auf der zweiten Silbe. Die erste Variante bezeichnet eben die Tätigkeit mit dem Birkenbesen in der Banja. Und die zweite Variante heisst schweben.  Wenn Sie in einer guten Banja sind, einen richitgen Birkenbesen dazu haben, und einen trockenen Dampf,  dann schwebt die Seele, wenn der Körper durchs sanftes bis heftigeres Klopfen mit einem Birkenbesen massiert wird. Es ist viel mehr als nur Schwitzen, Körperpflege. Eine richtige Banja hat wenig mit Körperpflege zu tun, sondern viel mehr mit Seelenspflege, die durch den Dampf mit ätherischen Ölen gereinigt wird, der Körper macht bloß mit, aber nicht umgekehrt. 
   So viel habe ich nun gebraucht, um nur das eine Wort zu beschreiben. Wie viele würde ich brauchen, um zu erklären, was heisst es, Sibirier zu sein, in Sibirien zu leben. Und diese Frage bekomme ich auch öfters zu hören, wie lebt ihr eigentlich hier. Dabei wird meistens die Kälte gemeint und Politik. Tja...an die Kälte ist man gewohnt, wenn man damit aufgewachsen ist. Für -40 habe ich einen guten Mutonpelz, der kein Luxus bei solchen Temperaturen ist, sondern eine Notwendigkeit. 
       Und Politik? Ich weiss nicht, was ich darauf antworten soll. Nicht aus Angst. Sondern weil die Frage an sich irgendwie daneben platzt. Sehr viele Ausländer, nicht nur Deutsche, betrachten Russland durch 2 Ferngläser, und zwar durch Kultur und Politik. (und für Sibirien gibt es eben noch Kälte). Dostojewsky und Tolstoj, Tschajkowsky und Prokofjew sind genial, alle Politiker zu allen Zeiten sind immer autoritär bis diktatorisch. Ich würde aber sagen, wenn jemand wirklich was von Russland und Sibirien verstehen möchte, der sollte sich von diesen zwei Blickwinkeln lösen und lernen, andere Fragen zu stellen, die das Leben eines kleinen Menschen wie mich  und meine Umgebung angehen. Zwischen russischer Klassik und Politik ist eine ganze Welt verborgen, die eigentlich unser wahres Leben ist. Das heisst nicht, dass Tolstoj mir fremd ist, den "Krieg und Frieden " habe ich das erste Mal mit 14 gelesen (das Buch sollte übrigens nicht "Krieg und Frieden" heissen, sondern etwa in der Art "was die Welt zu einem Krieg bewegt", weil das russische мир (mir) im Titel "Война и мир" (Wojna i mir)  zwei Bedeutungen hat, und zwar "Frieden" und "Welt", und Welt kann wiederum als "Erde" und "Menschen" gefasst werden.).  Natürlich steht Dostojewsky in meinem Bücherregal, aber auch Bücher von Evgeny Grischkowetz,  Dina Rubina , Boris Akunin, Dmitry Bykow und vielen anderen gegenwärtigen Schriftstellern. 
     Lieder von Wyssozki und Okudzschawa sind aus dem Leben meiner Eltern und meinen Kindererinnerungen nicht wegzudenken.  Nautilius Pompilius, Alexander Baschlatschow, DDT, Zoi und viele andere haben viel mehr für die Perestrojka geleistet als Gorbatschow, weil sie noch vor der offiziel erklärten Wende in der Politik die Jugendlichen  angesprochen haben, die anders leben wollten als die Generation ihrer Eltern. Und ihre Lieder sind immer noch nicht außer Mode, weil Mode überhaupt ein falsches Wort dazu wäre. Es ist unser Leben in ihren Liedern, das Leben der Generationen, die jetzt 30-40 sind. Und die werden auch von heutigen Jugendlichen gehört und gesungen. 
     Zitate aus Filmen wie Kidnapping, Caucasian Style, Moskau glaubt Tränen nicht , Ironie des Schicksals gehören zu unserem alltäglichen Kulturgut. Es vergeht wirklich kein Tag, dass man das eine oder das andere Zitat nicht zum Hören bekommen. 
      Ich habe nur wenige Beispiele gebracht, um zu zeigen, was meine Welt ist. Ist das, worüber  Akunin schreibt, Politik? Auf den ersten Blick kaum, weil  sich die meisten Handlungen Ende 19. und Anfang 20. Jahrhundert abspielen. Aber ich habe mich nicht gewundert, als ich ihn unter Demonstrierenden im Dezember 2011 in Moskau gesehen habe und ich vesrstehe auch, warum ich ihn nun unter Protestlern nicht sehe. 
In Russland lernt man nicht aus  Nachrichten und Zeitungen. Bei uns lernt man aus unserer Kultur, die  bei Tolstoj, Dostojewsky und Tschechow nicht zu Ende war. Sie schritt weiter und voran, bloß war das der Eiserne Vorhang, der uns vor der ganzen Welt getrennt hat. Aber wir haben doch unser Leben gelebt. Schriftsteller, Regisseure, Musiker, Sänger haben sich halt eine Art und Weise angeeignet, sich so auszudrücken, dass denkende Leute schon verstehen konnten, was gemeint wird. Wir haben es gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen. Und das kann man sich nicht abgewöhnen, denn diese Zitate vom Schaffen gegenwärtiger Künstler sind mehr als Zeichen der Belesenheit und Informiertheit. Das sind Code-Wörter, durch die man schnell rauskriegen kann, ob der eine oder andere zu deinem Umfeld gehört oder nicht. Ich liebe Nowosibirsk, weil die Stadt genau richtig groß ist, um genung Menschen mit denselben Code-Wörtern zu finden, die nicht klagen,  sondern tun. Und tun heisst schon leben.
       Also, mein guter Tipp an die, die das verstehen möchten, was Russland und Sibirien ist, wäre dann zu lernen, andere Fragen an uns zu stellen, zum Beispiel "Was hat Alexander Baschlatschow gemeint, als er in einem seiner Lieder gesungen hat "ich würde gern in Russland leben, leben und sterben, wenn das Land namens Sibirien nicht da wäre"?" Solche Fragen öffnen eine ganz andere Seite von uns. Und dann hätte ein Ausländer vielleicht eine Chanсe endlich mal Russland zu begreifen, das eigentlich nach Tjuttschew nicht mit Verstand zu begreifen ist. Danach wäre wahrscheinlich Sibirien zu begreifen.
PS Ich hoffe, dass ich in meinem Blog auch genug Gelegenheiten anbiete, zu lernen, andere Fragen zu stellen:))

17.07.12

Das antitouristische Nowosibirsk

Hallo, ich heiße Jelena Stern und ich komme aus Nowosibirsk. Ich bin Sibirierin. Nicht Russin. Warum? Wenn meine Urväter mütterlicherseits aus Polen, Weissrussland und Burjatien, meine Urväter väterlicherseits aus der Ukraine kommen, kann ich dabei Russin sein?
Ich bin in Sibirien geboren und  großgeworden. Mein Herz ist hier, genau in der Mitte des riesengroßen Landes namens Sibirien, in der Stadt, die unverschämt  jung ist, nur 119 Jahre alt. Linden und Platanen in Berlin können über so ein Alter nachsichtig  lachen: „soll das eine Stadt sein?“.  Aber genau das ist Nowosibirsk. Es ist nicht so wichtig für mich, dass es nach Moskau und Sankt-Petersburg die drittgrößte Stadt in Russland ist, dass es als Hauptstadt Sibiriens gilt. Nowosibirsk heißt wörtlich übersetzt  „neues Sibirien“ und eben das fasziniert mich an dieser Stadt.
Nowosibirsk ist neu für Sibirien in dem Sinne, dass es die einzige sibirische Stadt ist, die noch im Zarenrussland nicht als Festung oder  ein Ort zur Zwangsarbeit entstanden ist.  Nowosibirsk ist das erwünschte Kind der berühmten  Transsibirschen Eisenbahn, von Eingeweihten Transsib genannt. Es ist die Stadt, die wegen der  Brücke und um die Brücke herum an der Transsib gebaut worden ist,  und dieser Geist der Brücke bestimmt den Lebensweg und den Charakter von Nowosibirsk. Nowosibirsk ist sachlich, pragmatisch, aber auch gleichzeitig romantisch, und das wiederspricht sich ganz und gar nicht. Wieso denn nicht? Die Stadt, deren Geburt durch eine rein pragmatische Funktion bestimmt worden ist, kann und soll nicht unpragmatisch sein. Aber der Geist von Leuten, die für Entstehung der Transsib gesorgt haben, konnte auch nicht unromantisch sein, denn etwas Wertvolles, Richtiges und absolut Neues für sein Land  und sein Nachkommen zu schaffen, dabei auf den Komfort des alten gewohnten Lebens zu verzichten und in die Taiga zu fahren, das läuft  irgendwo an der Grenze von Wahnsinn und Romantik.
Momentan mache ich Urlaub auf der Krim, in einer alten kleinen tatarischen Stadt Alupka. Wir leben hier einen Katzensprung von Woronzowsky Park und Woronzowsky Schloss entfernt. Jeden Tag stoßen wir auf dem Weg zum Meer und zurück auf Touristenscharen. Touristen aus Amerika, Deutschland, Russland, aus der Ukraine kommen nach Alupka, um diesen wunderschönen Park zu besichtigen, an deren Gründung 40 Jahre lang ein deutscher Gärtner gearbeitet hat. Das atemberaubend schöne Woronzowsky Schloss  wiederholt so fein die Umrisse vom Berg Ai-Petri. Der Park und das Schloss sind echte Meisterwerke. Aber  einmal, nach der vierten riesengroßen Touristengruppe, durch die wir uns mit Mühe durchgeschlängelt haben, fragt  mich mein fünfjähriger Sohn, warum denn wir in Nowosibirsk keine Touristen haben.  Ich wusste nicht gleich, was zu antworten ist, und deshalb habe ich ihn gefragt, ob er das gut oder schlecht findet. Der hat sich ein paar Sekunden überlegt und gesagt, dass so viele Touristen einen auf seinem Weg stören.
Nowosibirsk hat keine architektonischen Meisterwerke, die Touristen faszinieren. Das Gesicht der Stadt ist sachlich, nicht mal berühmte russische Holzarchitektur ist hier zu bewundern. Einige weniger  Häuser  im Stadtzentrum zählen nicht, denn sie bestimmen nicht  die Gestaltung der Stadt. Eher erinnern sie uns daran, was Nowosibirsk   in seiner Vergangenheit  war, die eigentlich keine ist, denn 119 Jahre für eine Stadt sind immer noch Gegenwart.
Die Architektur von Nowosibirsk kann also einem  nicht den Atem berauben, wie es  in Sankt-Petersburg der Fall ist. Und auf dem Lenin-Platz  laufen nicht als Lenin und Stalin verkleidete Schauspieler, wie es oft auf dem Roten Platz in Moskau zu sehen ist. So was Kitschiges anzubieten wäre für Sibirier peinlich. Was können wir aber anbieten, damit einem das Herz dahin schmilzt, wenn es „Nowosibirsk“ hört? Meine Antwort wäre eine ganz einfache: Menschen sind unser Schatz, aber unser großer Schatz, nicht Öl oder Gas, denn eben Menschen, die den Grundstein einer Stadt legen, sind  etwas, ja sogar sehr viel,  wert. Und wir, Nowosibirsker, sind immer noch am Ursprung unserer Geschichte.
Ich bin mir absolut sicher, dass Begegnungen mit Menschen einem bereichern,  nicht  Dividenden, Rendite und Renten von Bodenschätzen. Menschen in Sibirien sind selbst für Russland was besonderes, denn bei so einem rohen Klima, unter harten Umständen  zu leben und Mensch zu bleiben, ist eine Heldentat, die man jeden Tag begeht, ohne es an die große Glocke zu hängen . Wir machen uns eigentlich keine Gedanken darüber, dass wir eine Art Helden sind. Wir leben unser Leben und freuen uns auf Begegnungen mit neuen Leuten.
Wie sieht es aber mit Touristen aus? Ehrlich gesagt,  mag ich keine Touristen. Ich bin selber nicht gerne eine Touristin. Touristen zu sein riecht nach Leichtsinnigkeit, Wegwerfmentalität. Leute, die ständig mit der Kamera knipsen, aus dem Bus – oder Zugfenster ein Land kennen lernen wollen, kommen bei einem Sibirier nicht gut an. Das heißt  ja aber nicht, dass Touristen einen schlechten Service bekommen. Das nicht! Ein Double Tree by Hilton bleibt auch in Nowosbirsk ein DoubleTree by Hilton. Viele Cafes bieten neben Wi-Fi  russische, europäische, chinesische, japanische, georgische Küche an. Unser Opernhaus mit 2 500 Sitzplätzen wirft einen schon alleine mit seiner Größe um. Und prachtvolle Innengestaltung unseres Hauptbahnhofs  kann einem Europäer den Atem rauben, der gewohnt ist, einen Bahnhof als Ort zur An- und Abreise zu sehen. Sicher wird ein Reiseführer einer Touristengruppe aus 40-50 Leuten den auswendig gelernten Text über die Stadt am Ob erzählen. Aber das Wesentliche bleibt für  einen Touristen für immer ein Geheimnis, und zwar die Seele der Stadt. Die Seele der Stadt bekommt man nicht zu spüren, in dem man  aus einem Bus in den anderen  springt oder  schnell durch die Stadt läuft.  Besonders die Seele von Nowosibirsk, der Stadt mit vielen Plattenbaugebäuden,  bleibt für einen Touristen grau. Das ist der Trick der Stadt, den sie benutzt, um leben zu können, ohne dass sie dabei Touristenscharen stören.
 Hinter grauen Fassaden herrscht das Leben, das  eher nach innen als nach außen gerichtet ist, denn draußen kann der Winter 5 Monate lang dauern, und das soll nicht heißen, dass das Leben eingefroren werden muss, das Leben eines modernen Menschen mit all seinen Bedürfnissen.  Wenn Sie es schaffen, die Schwelle eines Büros, eines Theaters, einer Gemäldegalerie oder einer Wohnung nicht als Tourist, sondern als Gast zu betreten, bleiben Sie für immer in Sibirien, in Nowosibirsk verliebt.  Gäste werden beim  obligatorischen Teetrinken schnell zu Freunden, denn Tee erwärmt den Körper und Gespräche dabei erwärmen das Herz.  Viele Deutsche, die in Nowosibirsk waren, und nicht als Touristen, sondern zum Arbeiten oder zum Studium, erinnern sich nicht an das Opernhaus, wenn es auch das größte in Russland ist, sondern an Bekanntschaften und Freundschaften. Unsere wahre Gastfreundschaft  gilt für Freunde. Und den Touristen bietet man einen guten Service an. Das ist jetzt Ihre Wahl, ob Sie nach Nowosibirsk kommen und wenn schon, dann als Tourist oder Gast. Auf jeden Fall freuen wir uns auf alle Begegnungen.
Man sieht sichJ