01.05.13

Nowosibirsk monstriert. Schon wieder.

         Nowosibirsk ist nicht als Nowosibirsk geboren. Den Namen, der im Russischen so dynamisch klingt, hat der Ort erst 1926 bekommen, statt Nowonikolajewsk. Der alte Name wies auf den damaligen Zaren hin, Nikolaj den Zweiten. Im neuen - sowjetischen -Russland sollte diese Spur völlig verschwinden, und so kam neues Sibirien auf die Karte Russlands. Und plötzlich wuchs die Stadt. Rasant. Von 120 000 Einwohner im Jahre 1926 auf 404 000 im Jahre 1939. Hat denn der  neue Name so sehr die Stadr beeinflußt? Ich weiß, was für Tricks Russisch spielen kann. Ein neues Wort ist imstande, total das ganze Leben zu verändern. Das hat sich der Ort irgendwie gemerkt. Und so kamen auf die Welt Akademgorodok, das Totalny Diktant, und die Monstration. Das sind Wörter, die Nowosibirsk der russischesprachigen Welt geschenkt hat. Die letzten zwei schon im neuen Russland, das die Sowjetunion abgelöst hat.
        Heute hat Nowosibirsk zum 10. Mal monstriert. Die erste Monstration hat am 01.05. 2004 stattgefunden, wobei etwa 80 Teilnehmer neben der offizielen Demonstration (eine noch von der sowjetischen Zeiten übernommene Tradition, als der Tag des Schaffens gefeiert wurde) ihr eigenes Happening organisiert haben. Dieses lehnte sich wiederum an die Veranstaltung "Stjobiusband", organisiert 1995 von Nowosibirsker Künstlern. Der Name war auch ein schönes Wortspiel, einerseits ist es der Hinweis auf das Möbiusband und andererseits steckt da das russische Wort "Stjob", was   für Witz und Spott steht. Die Teilnehmer hielten  absurde und lusitge Parolen hoch, wie z.B. "in vino veritas, aber die Wahrheit an sich ist in der Wodka".
        Diese Veranstaltung "Stjobiusband" aus 1995 lehnte sich an Demonstrationen aus den 20-ern,  als gleich nach der sozialistischen Revolution avantgardistische Künstler wie Dichter Majakowsky, Burljuk, Bely noch Freiheit hatten,  geistige wie intellektuelle und physische. Man hatte damals noch geglaubt, dass eine helle Zukunft auf weitere Generationen zukommt. Bis zu Stalinssäuberungen waren noch etwa 15 Jahre. Da nahm das Schicksal des ganzen Landes schon eine Kurve, der es nicht mehr zu entgehen war. Aber in den 20-ern ist der Geist der Freiheit und der Befreiung noch da. Wie 1995 in Nowosibirsk. Die Künstler hatte sogar der damalige Gouverneur Iwan Indinok begrüßt. Es stand dabei auf der Treppe des Nowosibirsker Regierungsgebäudes, das lustigerweise der Gemäldegaleire gegenüber liegt.  Gerade fand das "Stjobiusband" seine Fortsetzung, wobei Dichter dichteten, Maler  zum Gedichteten malten und Musiker  Musik zum Gedichteten und Gemalten spielten. Es ging lustig zu, kein Hauch von Verboten und Missbilligung seitens der Regierung. Eine goldene Zeit im Nachhinein.
       Also diese Traditionen aus den 20-er und 1995, beides Ausdrucksmöglichkeiten der russischen Intelligenzija, führten zur Monstration 2004. Es kamen wieder lusitge absurde Parole. Aber nicht mehr, weil wir viel Freiheit hatten oder uns von der Vergangenheit trennen wollten. Organisiert die Monstration hatten nun sehr junge Leute, unter 30. Die Gesellschaft war zu der Zeit apolitisch geworden. Und was in der Politik los war, das war absurd. Man lacht manchmal um nicht zu weinen. 
       Die Monstration war gedacht als eine künstlerische Aktion, wenn Teilnehmer ihre Parolen in der Hand sprechen lassen. Der Name ist von "Demonstration" abgeleitet, aber da das Präfix "de" eine dekonstruktive Bedeutung hat, wurde darauf verzichtet.  Parolen waren eigentlich  auf den ersten Blick apolitisch. Aber wer unter den Zeilen lesen kann, der versteht schon was. Und lacht. Meine Lieblingsparolen stammen aus dem vorigen Jahr, als im Land plötzlich Proteste kamen, nach den Wahlen in die Duma, nach dem Schachspiel mit dem neuen alten Präsidenten. Das sind die: "Мы - это вы. Только лучше" - "Wir seid ihr. Bloß besser" (ein Gespräch von jungen Leuten mit den älteren Generationen, die an der Macht sind), "не учите нас жить, иначе мы научим вас" -"Lehren Sie uns nicht zu leben, sonst lehren wir Sie", "Sie stellen uns nicht mal vor" (eine Anspielung auf die Resultate der Wahlen in die Duma, wobei die Abgeordneten praktisch die Wähler nicht vorgestellt hatten, da bei Stimmenauszählung viele Tricks eingesetzt worden waren. Und wie der Satz im Russischen gebaut war - "Вы нас даже не представляете" - das konnte man gleichzeitig verstehen als "Sie stellen sich nicht mal vor, wie wir sind"). Ich genieße richtig diese tollen Spiele mit der Sprache.
           Da diese künstlerische Aktion sehr frisch, aussagekräftig war, fand sie Fans in weiteren Städten Russlands und ehemaligen GUS-Ländern. Die Monstration wie auch das Totalny Diktant hat die Grenzen von Nowosibirsk und Russland überschritten.  2011 wurde sie  vom Staatlichen Zentrum für moderne Kunst (Moskau) mit dem Preis für die Innovation in der Kunst ausgezeichnet. 2013 sollen alleine in Nowosibirsk etwa 3 500 Leute mitgemacht haben.
          Bloß wird es von Jahr zu Jahr schwieriger. Schrauben werden langsam aufgedreht. Auch das Absurde kommt verdächtig vor. Wenn die städtische Regierung nicht so aktiv dagegen gewesen wäre, wäre vielleicht die Monstration nicht so populär geworden. Artjom Loskutow, der Organisator, sollte sich schon viel einfallen lassen, damit die Monstration doch stattfindet. Legal. Eben auf die Legalität wird viel Wert gelegt. Ich habe ab Anfang April mit Interesse die Geschichte mit "Genehmigung" und "Verbot" verfolgt. Nicht nur ich. Das hätte eine Art Vorfreude auf das Fest sein können, wenn es nicht so traurig gewesen wäre. Man weiß wirklich nicht, wie zu reagieren, wenn man zum Beispiel liest, dass in Krasnojarsk die Monstration unter der Bedingung genehmigt wird, wenn Parolen nicht absurd sind. Und das bei einem Fest der Asburde! 
Doch hat die 10.Monstration stattgefunden. Die Hauptparole war "вперед к темному прошлому!" was im Deutschen "Vorwärts zur dunklen Vergangenheit!" heißt (ein Gegensatz zur Folskel aus der sowjetischen Zeit "вперед к светлому будущему", also "vorwärts zur hellen Zukunft!")
Hier sind die Fotos
wir sind nur Schachbauern



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