12.10.13

der erste zweite Schnee

Da wollte ich unbedingt das hier zeigen, unseren ersten Schnee. Es hat eigentlich schon mal einige Tage vorher geschneit, aber gaaanz kurz und die Flocken waren auch nicht so richtig weich. Diesmal stimmte alles. Fotos hat ein begabter Fotograf gemacht, Ilnar Salachijew
















22.07.13

Deutsche sind die zweitgrößte Nationalität im Gebiet Nowosibirsk

Die letze Volkszählung aus 2010 hat diesen Status der Deutschen wiederum bestätigt. Noch 1989 haben im Gebiet Nowosibirsk über 60 000 Einwohner deutscher Herkunft gelebt. Die waren entweder noch Anfang des 20.Jahrhunderts von der Volga-Region nach Sibirien freiwillig gekommen. Oder auch verbannt. Am 28.August 1941. Heutzutage leben im Gebiet Nowosibirsk 31 000 Deutsche, ein Drittel dabei in der Stadt, die übrigen zwei Drittel im ländlichen Gebiet. So, wie es eigentlich Katharina die Zweite, die Große Katharina, die selber Deutsche war, in ihrem Erlaß vom 22.Juli 1763 gewollt hat. 250 Jahre sind um. Gut, dass es so war. Gut, dass es so ist.

11.07.13

Leiterin des Büros des Goethe-Instituts in Nowosibirsk: Nowosibirsk ist ein Paradies, wenn man eine Mischung aus Dorf und Stadt bekommen möchte

deutsche Nacht im Museum http://vk.com/photo-7237786_304192343

Julia Hanske ist die erste Leiterin des Büro des Goethe-Instituts in Nowosibirsk. Das Büro, das dritte in Russland nach Moskau und Sankt-Petersburg, wurde im März 2009 eröffnet und hat somit viel in die Kulturszene von Nowosibirsk und ganz Sibirien beigetragen. Ich habe fast bei allen Projekten des Goethe-Instituts in Nowosibirsk gedolmetscht und nun trete in einer für Julia neuen Rolle, einer Interviewerin, auf.
-Julia, mit wie vielen Jahren hast du mit Russisch angefangen?
-Muss ich mir selber überlegen….mit 8. Ich bin mit 8 auf die Russischschule gekommen. Bis ich 14 war, habe ich Russisch gelernt. Nach der Wende habe ich mit Französisch angefangen.
- Aus Protest?
-Nein, ich wollte einfach. Ich habe immer gern Russisch gelernt, aber ich wollte auch was anderes lernen. Alle wollten nach Frankreich
- Und Französisch, weil es sooo schön klingt „ich fahre nach Paris“?
- Na ja. Ich habe also Französisch gelernt  und Russisch habe ich wiederum verwendet erst 2001, als ich als Reiseleiterin eine Reisegruppe aus Moskau nach Peking begleiten sollte. Da war ich noch Studentin. Da kam ich erst mal für drei Tage nach Moskau, um die Stadt kennenzulernen, bevor die Gruppe ankommt.  Das war der erste Kontakt zur Sprache nach so vielen Jahren. Und dann kam wieder eine Pause, bis ich 2005 nach Moskau zum Goethe-Institut kam. Und da habe ich angefangen, Russisch schon regelmäßig zu lernen.
- Seitdem bist du der Sprache also ziemlich mächtig. Ich habe dich für mein Interview auch ausgewählt, weil du nicht nur sehr gut Russisch kannst, sondern auch, weil du dich in unserer Kultur auskennst. Ich bin selber eine Art Grenzgängerin, also eine, die an der Grenze zwischen zwei Sprachen und Kulturen ist und sich in beide Richtungen bewegen kann. Es geht dabei wirklich nicht nur darum, dass ich Deutsch sprechen und unterrichten kann, auch bei Bedarf dolmetschen, sondern auch die Kultur vermitteln. Was du eigentlich in Nowosibirsk bisher gemacht hast, liegt eben in diesem Bereich. Für das deutsche „Grenzgänger“ würde ich das russische «пограничник» nehmen, aber nicht in dem Sinne „die Grenze schützen“, sondern „über die Grenzen vermitteln“.
- Stimmt schon. Aber dazu gehört auch eine gewisse Grundsympathie zum Land, Kultur. Da braucht man eine gewisse Toleranz. Natürlich merkt man auch, dass man mit der Zeit an seine Grenzen gerät. Je länger man in einem fremden Ort ist, desto ungeduldiger wird man. Besonders bei Dingen, die man weder verstehen, noch ändern kann. Trotzdem verbindet mich sehr viel mit diesem Land.


- Wann hast du das erste Mal über Nowosibirsk gehört? Als Wort bloß.
- Das erste Mal eben 2005 bei meiner Arbeit beim Goethe-Institut Moskau. Mein erster Job war das Fernstudiumprojekt mit der Uni Kassel, wobei es darum ging, über dieses Projekt Deutschlehrer in ganz Russland weiterzubilden. Als Leiterin des Projekts bin ich viel gereist, in ganz Russland, von 2005 bis 2007 war ich überall: in Blagowetschensk, Abakan, Omsk, Tomsk. Überall, außer Nowosibirsk. Die Reise nach Nowosibirsk war für Mai 2007 geplant, aber dann wurde ich nach Peking versetzt, so dass sie nicht mehr zustande kam. Ich rief dann die Kontaktperson hier vor Ort an und sagte, was man in solchen Fällen eben sagt „es hat diesmal nicht geklappt, aber wir sehen uns bestimmt wieder“, was eigentlich heißen sollte „ garantiert nie“, weil Peking und Nowosibirsk doch auf Strecken liegen, die sich nicht kreuzen.
-Wann hast du denn erfahren, dass du doch nach Nowosibirsk kommst?
- Wie gesagt bin ich 2007 nach Peking gegangen und 2008 rief man mich an und sagte, dass in Nowosibirsk das dritte Büro vom Goethe-Institut eröffnet werden sollte. Man fragte mich, ob ich das machen möchte. Ich habe gleich „ja“ gesagt. Dieser schnelle Beschluss hing aber nicht mit der Stadt zusammen, sondern mit der Aufgabe. Ich habe schon immer geträumt, ein Institut aufzubauen und damit auch Pionierarbeit zu leisten und weil ich Russland schon kenne, ist mir die Entscheidung leicht gefallen.
- In dem du „ja“ zu Nowosibirsk gesagt hast, hattest du irgendeine Vorstellung, was für eine Stadt das ist?
- Ja, ich hatte Kontakte zu den Leuten und ich habe die Stadt auf Bildern gesehen. Sie wirkte sehr grün. Grün, modern, hell, freundlich. Ich hatte den Eindruck, das ist eine sehr energische Großstadt. Im Vergleich zu anderen sibirischen Städten, die doch kleiner sind. Irgendwo anders  wäre ich wahrscheinlich nicht hingegangen.
- Auch nicht wegen der Eröffnung eines neuen Büros?
-Grundsätzlich werden Institute eher in den Metropolen eröffnet. Wenn man mich heute fragen würde, wo sollte in Sibirien ein GI eröffnet werden, dann würde ich antworten „nur in Nowosibirsk“. Ich hatte, wie gesagt, positive Bilder im Kopf. Ich hatte auch in Moskau eine gute Freundin, die  aus Nowosibirsk stammt und hatte also eine wage Vorstellung, was mich hier erwarten könnte.
- Im März 2009 wurde das Büro eröffnet.
- Ja, das ist schon gut 4 Jahre her. Das war ein sehr wichtiger Abschnitt  in meinem persönlichen Leben und natürlich auch für das Goethe-Institut. Ich bin im Februar angekommen, wir hatten nur eine kurze Vorbereitungszeit, um das Eröffnungsfestival Sibstancija auf die Beine zu stellen. Das heißt, meine Moskauer KollegInnen haben schon vieles vorbereitet, so dass ein gutes Fundament bereits vorhanden war.
-Du kamst also im Februar an. Nichts vom Grünen zu sehen.
-Nichts, aber ich weiß noch, wie schön es war. Viel Schnee, dadurch war alles sehr hell. Es wirkte alles sehr sauber. Das hat mich irgendwie positiv gestimmt. Dann kamen März und April, die schwierigsten Zeiten.
-Tja, die muss man aushalten.
- Eben. Nur aushalten. Ich finde es gut, dass ich im Februar gekommen war. Es war zwar kalt, aber ich habe keine Angst vor Kälte. Ich bin eher allergisch gegen Grau, Schmutz und so…Aber April und März sind halt schwierige Phasen in ganz Russland, nicht nur in Nowosibirsk. Auch aus Moskau kenne ich das Phänomen, wenn der Schnee weg ist, und plötzlich alles, aber wirklich alles auf den Straßen liegt. Aber dann kommt relativ plötzlich der Frühling, der Sonnenaufgang. Da reicht die Energie. Da hatten wir viel zu tun wegen der Eröffnung. Im März lag sie hinter uns, sie war sehr erfolgreich, wir hatten viele Kontakte.  Es sollte nun viel los gehen. Da sitzen wir auf der Terrasse nach so vielen Wochen Schnee in der Lenina-Straße, und die Sonne scheint, und ich denke mir „es ist doch ok, ganz gut hier“. Und diese Energie hier kommt wirklich durch den Umschwung. Es gibt Tage, wo ich wirklich Probleme mit dem Klima habe, aber es gibt auch Tage, die man richtig genießen kann. Das können Sibirier irgendwie.
- Das kommt mit der Muttermilch.
-Ja, eben. Dieses Durchhaltevermögen bei den Sibiriern bewundere ich. Weil ich mir selber nicht vorstellen könnte, hier für immer zu leben. Ich glaube, das ist sehr schwierig. Die Leute lassen sich hier durch nichts beeindrucken, klimatisch meine ich. Man meckert nicht. Man macht die Banja an. Unser familiäres Motto hier war, so zu leben, wie die Sibirier leben. Einfach mitzumachen. Jede Jahreszeit hat ihre Besonderheit.
-Das hat dir Nowosibirsk beigebracht.
-Ja, ich sage nicht, dass wir wie die Ureinwohner hier gelebt haben, aber wie normale Nowosibirsker. Das heißt, wir leben mit der Saison. Das heißt zum Beispiel, dass man schon im März Samen in den Boden in den Kisten reintut. Wir haben das auch zwei Jahre gemacht. Bloß als die zweite Tochter zur Welt kam, konnten wir das nicht mehr machen, das wurde uns zu kompliziert. Aber die ersten zwei  Jahre in Nowosibirsk haben wir alle Zyklen mitgemacht. Säen, anbauen, Unkraut jäten, gießen, ernten.


- Gemüse eingemacht?
-Alles! Es stehen immer noch ein paar Gläser mit Sachen, die wir damals eingemacht haben, in unserem Vorratsschrank. Warenje (Konfitüre) haben wir auch gemacht. Um in Sibirien erfüllt zu leben, musst du die Sachen mitmachen. Im Herbst Pilze sammeln. Das war ein ganzes Ritual. Mein Mann geht sehr gerne Pilze sammeln, ich auch. Im Sommer geht man baden.
- Dein Prinzip ist also mitzumachen?
-Wenn es geht. In China zum Beispiel funktioniert es nicht. Sich in China in die Bevölkerung zu integrieren ist schwerer als in Russland. Und das ist der Vorteil für Russland. Weil die Russen uns als ihresgleichen schneller akzeptieren.  Ich hatte wirklich nie das Gefühl, dass meine Kollegen, meine Freunde mich als Ausländerin sehen. Obwohl es auch mal schön ist, Ausländer zu sein. Ich spreche zwar Russisch nicht perfekt, aber ich bin ein Mensch. Der einzige Unterschied ist wirklich nur die Sprache, kulturell haben Deutsche und Russen nicht so wahnsinnig große Unterschiede wie Deutsche und Chinesen. Ich habe da auch meine Erfahrung. Ich kann zwar Chinesisch sprechen, Kontakte aufbauen, aber sich wirklich zu integrieren ist fast unmöglich. Peking ist so eine Großstadt, in der nur das Großstadtleben stattfindet. Und Nowosibirsk hat einen ruralen Anteil. In dem Sinne, dass alle im Sommer raus fahren, auf ihrer Datschas, egal wie klein die ist. Im Winter ist man sehr viel drinnen, im Sommer draußen. Und damit verbindet sich eine Menge, kulturell und sozial. Man lädt Freunde zu sich ein, man macht Schaschlik, wenn man eine Banja hat, um so besser. Wir waren also auf vielen Datschas, in vielen Banjas.
-Möchtest du irgendwann auch eine Banja haben?
-Unbedingt! Das ist mein Traum. Wenn wir mal länger in Deutschland sind, bauen wir unbedingt eine Banja.
-Keine Sauna?
-Nee. Es soll ein Holzofen sein, dieser Geruch von Holz gehört dazu. Wir lassen uns Zeit, aber wenn es soweit ist, bauen wir unbedingt eine. Was wir von Sibirien mitnehmen, sind eben die Gedanken über die Banja.
-Wichtig ist dabei aber, auf keinen Bären zu stoßen. Mein Vater lebt in einem Dorf 250 km von Nowosibirsk entfernt, und da hat er schon mal beim Pilzesammeln einen Bären gesehen.
-Wir fahren nicht so weit weg. Da sind wir schon vorsichtige Menschen. Wir machen alles mit, aber wir übertreiben nicht. Weiter als 100 km von der Stadt fahren wir nicht weg. Für die Pilze reicht es. Auch Ski fahren. Wenn man hier ist, und sein Leben angenehm gestalten möchte, muss man gerne die Dinge tun, die hier zu erleben sind. Wenn man kein Skifahrer ist, nicht gerne Pilze sammelt, auch nicht gern im Garten arbeitet oder Schaschliki grillt, wenn man keine Banja mag, ist Nowosibirsk nicht der richtige Ort.
-Nowosibirsk ist also nichts für richtige Städtler?
- Für richtig urbane Menschen ist Nowosibirsk meiner privaten Meinung nach nicht der richtige Ort, weil die Stadt zu klein ist, um sich nur darauf zu beschränken und zu weit weg ist, um schnell irgendwo anders zu sein. Du kannst natürlich schnell nach Tomsk, aber dort ist noch weniger städtisches. Das heißt, die nächste Großstadt ist entweder Moskau oder Astana.
-Oder Berlin?
- Oder Berlin. Oder Peking. Da kann man sich überlegen, ob ich 4 Stunden nach Moskau oder 4 Stunden nach Peking fliege. Ich stelle fest, dass man in Nowosibirsk Zeit braucht, um die Stadt richtig zu entdecken. Zum Beispiel in Peking hatte ich das Gefühl, dass Informationen, was es da alles gibt, irgendwie schneller zu mir kommen. In Nowosibirsk gibt es viel mehr als man denkt. Die Infos bekommt man übers Internet, Reklame, Freunde. Aber dafür braucht man Zeit. Es gibt viel tolle Dinge, wie zum Beispiel dieses Zedernfass „Praskowja“ (Fasssauna), das du mir empfohlen hast.
- Hat es gut getan?
- O ja! Ich ärgere mich nur, dass ich das erst so spät, kurz vor unserer Abreise entdeckt habe. Das Zedernfass, die Massage, der Kräutertee: davon war ich fasziniert. Die Stimmung da fand ich total gut. Da reden alle so freundlich und fragen, wie es mir da in dieser Zederntonne geht, ob ich es noch aushalten kann. Wenn ich hier länger leben würde, hätte ich ein volleres Bild, aber dafür braucht man Zeit. Wir haben wirklich jedes Jahr was Neues entdeckt. Mit dem Skifahren  habe ich erst hier  intensiv angefangen.

Sajeltzowsky Park

-Im Sajeltzowsky Park bestimmt?
-Ja, klar. Der liegt sehr günstig. Da wundert man sich, wie viele Leute unterschiedlichen Alters dort unterwegs sind und alle so fit. Wir waren die langsamsten. Und bald fahren wir in die „sibirische Schweiz“, in Masljaninsky Rayon, wo wir uns alles angucken werden, ein Skigebiet, Schulen, Schwimmbäder. Es ist wirklich so, dass jedes Jahr eine Bereicherung für uns war.
-Könntest du dir vorstellen, dass du all das ohne dein Russisch entdecken konntest?
- Ich weiß nicht. Ich habe auch deutsche Kollegen, die hier leben und kein Russisch kennen, aber trotzdem kommunizieren sie und entdecken die Stadt. Da geht schon. Aber ich habe wirklich das Glück, dass ich Russisch kann. Das beruhigt irgendwie. Und über die Sprache schlüpfst du in die Atmosphäre rein, ins Leben normaler Leute.
-Was war denn dein erster negativer Eindruck von Nowosibirsk? Was ärgert dich an Nowosibirsk?
- Der Ort, der mich am meisten ärgert, ist der Zirkus. Wir gehen dorthin relativ oft, weil die Kinder gerne im Zirkus sind. Aber ich ärgere mich jedes Mal schwarz. Echt teuer, schlechte Unterhaltung, nicht mehr akzeptabel. Die ganze Ästhetik fehlt da, wenn du im Stuhl sitzt, der fast auseinanderfällt und guckst, wie Tiere gepeitscht werden. Aus meiner Kindheit kenne ich den Zirkus als Zauberort, ich habe den immer geliebt. Als ich in Amsterdam studiert habe, habe ich da mal ein Zirkusfestival besucht, wo in einem Park halt alte Zelten aufgestellt waren. Nicht das eine große, sondern mehrere kleine. Es war nicht unbedingt, das es in jedem dabei ein großes Wow gegeben hat. Akrobaten, Tiere. Interessanter war, dass da nach alten Rezepten gekocht und gebacken wurde. Es war so schön, alte Gerichte und Getränke zu probieren.
- Ein Fest der Seele also?
--Stimmt. Es war schön, in alte Zeiten unterzutauchen, zu feiern, wie früher gefeiert wurde. Das war eine Art Zauber. Und dieser Zauber fehlt mir im Zirkus in Nowosibirsk.
-Und im Alltag?
- Im Alltag? Schwer zu sagen, ob mich da was ärgert. Vielleicht der Straßenverkehr. Und die Rücksichtslosigkeit. Es ist eine rücksichtslose Gesellschaft. Im kleinen, familiären Bereich gar nicht, aber im öffentlichen Leben schon. Wie sich die Leute auf der Straße anschimpfen können, mit ganz primitiven Wörtern. Leute, die sich gar nicht kennen. Da denkt man sich, wie unmenschlich es manchmal wirkt. Da denke ich manchmal, wie so denn in so und so einer Situation einer nicht netter sein könnte. Nicht übertreiben, aber halt zivilisierter.
- Interessant zu beobachten, dass der, der schimpft, ein Geschäftsmann im teuren Anzug sein kann und ein Obdachloser.
- Ja, man ist auf sich selber konzentriert und achtet weniger auf die Umwelt, der Rest ist egal.
- Hängt das mit der Identität zusammen?
- Ja, ich sehe es so. Wenn ich mir überlege, dass die Stadt erst 120 Jahre alt ist, dann ist es klar, woher soll denn die Verwurzelung und die Identität herkommen? Die kann noch nicht da sein. Das kommt nicht in ein paar Jahren.
- Das mit der Identität, da hast du recht. Ich blogge über Nowosibirsk auf Deutsch. Das mache ich in der Regel schon in der Nacht, wenn mein Sohn schläft. Warum opfere ich den Schlaf? Nur weil ich den Deutschen über meine Heimatstadt erzählen möchte? Ich habe erst vor kurzen verstanden, dass indem ich über Nowosibirsk erzähle, entwickle ich für mich selber diese Identität. Es ist wichtig für mich selber zu verstehen, was ist denn dieser Ort, in dem ich lebe. Deshalb finde ich das toll, dass du das Thema „Identität“ hier angesprochen hast. Meine nächste Frage wäre  dann, welchem Menschentyp würdest du empfehlen, nach Nowosibirsk zu kommen?
- Bestimmt nicht richtigen Städtern. Es müssen Leute sein, die eine gewisse Verbundenheit zur Natur haben. Abenteuerlustige. Es müssen Leute sein, die gerne durch die Gegend mit dem Kompass in der Hand laufen. Für die ist hier ein richtiges Paradies. Es gibt hier unzählige Wälder. Für solche Menschen ist Sibirien wirklich ein Paradies, wo du in der wilden Natur sein kannst, wo du wirklich keinen einzigen Menschen siehst, nicht diese Wanderwege mit diesen komischen Zeichen. Ich bin ein Wanderwegfan, wo du wandern kannst, aber auch in eine Raststätte einkehren, etwas essen. Das ist was typisch deutsches, hier gibt es keine Infrastruktur dazu. Das entwickelt sich langsam in Russland, aber ist noch unterentwickelt. Wenn du das aber nicht brauchst, nur das Feld und das Lagerfeuer, dann ist Sibirien für dich. Besonders wenn du nicht nur das Dorfleben leben willst, sondern auch schnell ins Großstadtleben zurück, so ist Nowosibirsk dann perfekt.
-Und was dann kulturelle Ereignisse angeht?
-Klassische Theater und sehr gutes Ballett. Bei den Theatern meine ich jetzt das „Krasny Fakel“, das Afanassjew-Theater oder Globus. Aber für die muss man Russisch können. Ohne Sprache geht es fast nicht.
- Dann bleibt nur das Opernhaus für Gäste aus Deutschland.
- Ja, ich würde das Ballett empfehlen. Die Oper beeindruckt mich nicht so sehr, aber ich bin an sich kein Opernfan.
- Russen sind nicht in der Oper stark, sondern im Ballett.
- Ne, das liegt eher an der Akustik hier, da habe ich Probleme damit. Das stört nicht beim Ballett, wenn besonders die Technik so gut ist. Und die Technik ist schon auf einem sehr hohen Niveau.
- Kann sein, dass deine ältere Tochter dann in 10-15 Jahren auf der Bühne in unserem Opernhaus auftreten wird.
- Mit ihren 4 Jahren geht meine Tochter sehr gerne in die Ballettschule, und die ist sehr gut. Da ist eine gesunde Mischung aus streng und frei. Das finde ich toll. Und das ist auch das, was wir vermissen werden. Neben Kindergärten bietet Nowosibirsk schon viel im Bereich Ausbildung für Kinder. So viel ich weiß, macht dein Sohn auch was mit der Animation. Also in Fragen Musik, Tanz, Singen gibt es genügend Möglichkeiten für Kinder. Mein persönlicher Lieblingsort ist das Kino Pobeda.
- Was sagst du zur Malerei in der Stadt?
- Schwierig. Im Vergleich zu anderen asiatischen Städten ist die Kunstszene in Nowosibirsk begrenzt.  Es gibt ein paar etablierte Künstler, aber keine pulsierende Kunstszene. Ich würde das mit der Ausbildung zusammenbringen. Man muss halt solche Leute ausbilden. Es gibt in Nowosibirsk eine gute Architekturakademie, die solche neue Talente ausbilden könnte.
-Meine vorletzte Frage also, was wäre denn ein durchschnittlicher Nowosibirsker für dich? Kann man da überhaupt verallgemeinern?
- Sehr schwierig. Nowosibirsker sind so sehr unterschiedlich. Auch rein ethnisch. Es sind sehr viele Zugewanderte oder Nachfahren von Wissenschaftlerfamilien oder von Verbannten.
 - Stimmt. Ich habe polnische, ukrainische, weißrussische Wurzeln.
- Ja, die meisten, die ich kenne, haben gemischte Wurzeln, von Jakuten und Tatarenblut bis Kasachen und Ukrainer, Usbeken mit Tadschiken gemischt. In dem Sinne gibt es keinen durchschnittlichen Nowosibirsker.
 - Gibt es aber vielleicht was Gemeinsames?
 - Durchhaltevermögen und Optimismus. Unternehmungslust. Ich habe nicht das Gefühl, dass die Leute hier träge sind. Da sind die energisch, machen viel.
- Klar, man muss sich doch erwärmen.
- Ja, vielleicht. Ein bisschen dickköpfig können sie auch sein, nach dem Prinzip „so haben wir es schon immer gemacht, so wird es weiter gehen“. Das sehe ich als eine bestimmte Begrenzung der Offenheit.
- Da ist viel Hoffnung auf die, die jetzt etwa 25 sind. Die haben sich keine Grenzen gesetzt, sind offen, hören gut zu.
- Genau. Ich merke das an der Bar „Friends“, die hören wirklich auf die Besucher und können auch Englisch, weil sie bewusst Ausländer anziehen, die werden bestimmt keine Probleme mit der Klientel haben. Ich bin gespannt wie sich Nowosibirsk in den nächsten 10 Jahren entwickeln wird. Ich schätze, dass die Veränderungen viel schneller und intensiver sein werden als in vielen anderen Teilen der Welt. Das ist eben auch typisch Sibirien.
- Also, vielen Dank Julia für das Gespräch. Komm mal in 10 Jahren vorbei!
Eröffung der Ausstellung für energiesparende Technologien



01.05.13

Nowosibirsk monstriert. Schon wieder.

         Nowosibirsk ist nicht als Nowosibirsk geboren. Den Namen, der im Russischen so dynamisch klingt, hat der Ort erst 1926 bekommen, statt Nowonikolajewsk. Der alte Name wies auf den damaligen Zaren hin, Nikolaj den Zweiten. Im neuen - sowjetischen -Russland sollte diese Spur völlig verschwinden, und so kam neues Sibirien auf die Karte Russlands. Und plötzlich wuchs die Stadt. Rasant. Von 120 000 Einwohner im Jahre 1926 auf 404 000 im Jahre 1939. Hat denn der  neue Name so sehr die Stadr beeinflußt? Ich weiß, was für Tricks Russisch spielen kann. Ein neues Wort ist imstande, total das ganze Leben zu verändern. Das hat sich der Ort irgendwie gemerkt. Und so kamen auf die Welt Akademgorodok, das Totalny Diktant, und die Monstration. Das sind Wörter, die Nowosibirsk der russischesprachigen Welt geschenkt hat. Die letzten zwei schon im neuen Russland, das die Sowjetunion abgelöst hat.
        Heute hat Nowosibirsk zum 10. Mal monstriert. Die erste Monstration hat am 01.05. 2004 stattgefunden, wobei etwa 80 Teilnehmer neben der offizielen Demonstration (eine noch von der sowjetischen Zeiten übernommene Tradition, als der Tag des Schaffens gefeiert wurde) ihr eigenes Happening organisiert haben. Dieses lehnte sich wiederum an die Veranstaltung "Stjobiusband", organisiert 1995 von Nowosibirsker Künstlern. Der Name war auch ein schönes Wortspiel, einerseits ist es der Hinweis auf das Möbiusband und andererseits steckt da das russische Wort "Stjob", was   für Witz und Spott steht. Die Teilnehmer hielten  absurde und lusitge Parolen hoch, wie z.B. "in vino veritas, aber die Wahrheit an sich ist in der Wodka".
        Diese Veranstaltung "Stjobiusband" aus 1995 lehnte sich an Demonstrationen aus den 20-ern,  als gleich nach der sozialistischen Revolution avantgardistische Künstler wie Dichter Majakowsky, Burljuk, Bely noch Freiheit hatten,  geistige wie intellektuelle und physische. Man hatte damals noch geglaubt, dass eine helle Zukunft auf weitere Generationen zukommt. Bis zu Stalinssäuberungen waren noch etwa 15 Jahre. Da nahm das Schicksal des ganzen Landes schon eine Kurve, der es nicht mehr zu entgehen war. Aber in den 20-ern ist der Geist der Freiheit und der Befreiung noch da. Wie 1995 in Nowosibirsk. Die Künstler hatte sogar der damalige Gouverneur Iwan Indinok begrüßt. Es stand dabei auf der Treppe des Nowosibirsker Regierungsgebäudes, das lustigerweise der Gemäldegaleire gegenüber liegt.  Gerade fand das "Stjobiusband" seine Fortsetzung, wobei Dichter dichteten, Maler  zum Gedichteten malten und Musiker  Musik zum Gedichteten und Gemalten spielten. Es ging lustig zu, kein Hauch von Verboten und Missbilligung seitens der Regierung. Eine goldene Zeit im Nachhinein.
       Also diese Traditionen aus den 20-er und 1995, beides Ausdrucksmöglichkeiten der russischen Intelligenzija, führten zur Monstration 2004. Es kamen wieder lusitge absurde Parole. Aber nicht mehr, weil wir viel Freiheit hatten oder uns von der Vergangenheit trennen wollten. Organisiert die Monstration hatten nun sehr junge Leute, unter 30. Die Gesellschaft war zu der Zeit apolitisch geworden. Und was in der Politik los war, das war absurd. Man lacht manchmal um nicht zu weinen. 
       Die Monstration war gedacht als eine künstlerische Aktion, wenn Teilnehmer ihre Parolen in der Hand sprechen lassen. Der Name ist von "Demonstration" abgeleitet, aber da das Präfix "de" eine dekonstruktive Bedeutung hat, wurde darauf verzichtet.  Parolen waren eigentlich  auf den ersten Blick apolitisch. Aber wer unter den Zeilen lesen kann, der versteht schon was. Und lacht. Meine Lieblingsparolen stammen aus dem vorigen Jahr, als im Land plötzlich Proteste kamen, nach den Wahlen in die Duma, nach dem Schachspiel mit dem neuen alten Präsidenten. Das sind die: "Мы - это вы. Только лучше" - "Wir seid ihr. Bloß besser" (ein Gespräch von jungen Leuten mit den älteren Generationen, die an der Macht sind), "не учите нас жить, иначе мы научим вас" -"Lehren Sie uns nicht zu leben, sonst lehren wir Sie", "Sie stellen uns nicht mal vor" (eine Anspielung auf die Resultate der Wahlen in die Duma, wobei die Abgeordneten praktisch die Wähler nicht vorgestellt hatten, da bei Stimmenauszählung viele Tricks eingesetzt worden waren. Und wie der Satz im Russischen gebaut war - "Вы нас даже не представляете" - das konnte man gleichzeitig verstehen als "Sie stellen sich nicht mal vor, wie wir sind"). Ich genieße richtig diese tollen Spiele mit der Sprache.
           Da diese künstlerische Aktion sehr frisch, aussagekräftig war, fand sie Fans in weiteren Städten Russlands und ehemaligen GUS-Ländern. Die Monstration wie auch das Totalny Diktant hat die Grenzen von Nowosibirsk und Russland überschritten.  2011 wurde sie  vom Staatlichen Zentrum für moderne Kunst (Moskau) mit dem Preis für die Innovation in der Kunst ausgezeichnet. 2013 sollen alleine in Nowosibirsk etwa 3 500 Leute mitgemacht haben.
          Bloß wird es von Jahr zu Jahr schwieriger. Schrauben werden langsam aufgedreht. Auch das Absurde kommt verdächtig vor. Wenn die städtische Regierung nicht so aktiv dagegen gewesen wäre, wäre vielleicht die Monstration nicht so populär geworden. Artjom Loskutow, der Organisator, sollte sich schon viel einfallen lassen, damit die Monstration doch stattfindet. Legal. Eben auf die Legalität wird viel Wert gelegt. Ich habe ab Anfang April mit Interesse die Geschichte mit "Genehmigung" und "Verbot" verfolgt. Nicht nur ich. Das hätte eine Art Vorfreude auf das Fest sein können, wenn es nicht so traurig gewesen wäre. Man weiß wirklich nicht, wie zu reagieren, wenn man zum Beispiel liest, dass in Krasnojarsk die Monstration unter der Bedingung genehmigt wird, wenn Parolen nicht absurd sind. Und das bei einem Fest der Asburde! 
Doch hat die 10.Monstration stattgefunden. Die Hauptparole war "вперед к темному прошлому!" was im Deutschen "Vorwärts zur dunklen Vergangenheit!" heißt (ein Gegensatz zur Folskel aus der sowjetischen Zeit "вперед к светлому будущему", also "vorwärts zur hellen Zukunft!")
Hier sind die Fotos
wir sind nur Schachbauern



Weitere Fotos sind hier zu sehen.

05.04.13

Total diktatorisch oder die Wahl der russischen Intelligenzija

        Tja, es ist weltbekannt, dass Russlland  ein geheimnisvolles Land ist, das komische Traditionen hat, auf die es trotz aller Veränderungen, Innovationen, Modernisierungen, Demokratisierungen nicht verzichten kann. Irgendwo so tief, im Blut vielleicht, in den kleinsten DNA, sitzt etwas, was von einer Generation zur anderen geerbt wird, was sich aber evolutionsgemäß der gegenwärtigen Welt anpassen muss. 
        Zum Beispiel, wir hatten schon immer wenig Neigung zur Demokratie. Es herrschte immer ein Zar, wenn der auch der Generalsekretär der Kommunistischen Partei geheißen hat. Stalin war ein Diktator, mit dessen Erbschaft wir immer noch nicht fertig sind. Vielleicht deshalb, um das fertig zu kriegen, haben kluge Köpfe aus der Nowosibirsker Staatuniversität mal beschlossen, dem Wort "Diktator" eine neue Bedeutung zu verleihen, die dem Geist der Stadt entspricht, die wie ich schon mal erzählt habe, selber ein Projekt dreier Generationen der russchen Intelligenzija ist. Diese Erbschaft der Intelligenzija wird besonders aktiv durch die Luft in Akademgorodok  übertragen, es reicht manchmal, nur nach Akademgorodok zu fahren und da ist man schon unheimlich intelligent:)) intelligent in dem Sinne, wie es in Russland aufgefasst wird, über das IQ hinaus, tief ins Herz eingreifend, wo  Liebe zu Weiten, zur Welt und zum Weltall verweilen.
          Also am 11.März 2004 haben sich 200 Leute von der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der NSU versammelt, um ein Diktat mitzuschreiben. (wörtlich aus dem Russischen übersetzt würde die Fakultät eine humanitäre heißen, nicht geisteswissenschaftliche. Die russische Variante mag ich lieber, weil die Wissenschaft, wenn die auch vom Geiste ist,  ja doch  nicht alles erklären kann, was den Menschen, also das Humanum angeht). Heute würde man dazu sagen, ein Flash-Mob. Stimmt auch. Aber die von Akademgorodok hatten nicht das Ziel, sich  zu amüsieren, sondern den Begriff "russische Intelligenzija" wiederzubeleben. 
        Schon immer, seit den Zeiten des zaristischen Russlands, auch in der Sowjetunion, waren die Belesenheit und  das fehlerfreie Schreiben Merkmale der russischen Intelligenzija, die damals den Ton für die ganze Gesellschaft gegeben hat. Es war nicht der Mittelstand, wie in Deutschland oder ganz Europa, der ein Motor für die Fortbewegung war und immer noch ist, sondern die Intelligenzija.  Also nicht (oder nicht nur) die Summe auf dem Konto und nicht die Kaufkraft haben Orientiere für die Gesellschaft gesetzt, sondern die Fähigkeit, zu denken und zu fühlen und das in Worte zu fassen. Das war alles anerkannte geistige Elite, die höchste Stufe in der Gesellschaft. Auch die Sowjetunion hat da nichts verändern können, alle Stalins Säuberungen konnten diese Zugehörigkeit zur Elite nicht vernichten. Vielleicht weil das wirklich nicht übers Blut geerbt wird, sondern über die russische Sprache, deren regenerative Kraft mein Lieblingsschriftsteller Brodsky besungen hat.
        Während der Perestrojka und in der Zeit darauf stürzte vieles zusammen. Luxuriöse Waren, bunte Verpackungen, Reisefreiheit waren eine Art Sinntflut, die die Intelligenzija von ihrer Höhe herabgeschwemmt  hat. Es war nicht mehr cool, ein Intelligent zu sein, fehlerfrei zu schreiben. Es wurde cool, sich teure Klamotten, Autos zu kaufen, auf den Urlaub ins Ausland zu reisen. Das Recht des Starken hat alles überwogen. Und Intelligenten waren nicht die, die aus solch einem Ringen als Sieger davon kommen. Die Sieger, die zur Zeit der Intelligenzija, als Dreiler genannt waren (nach der Schulnote "drei", also "befriediegend"), haben eine neue Wirtschaft in Russland gebaut, weil sie mehr Kraft gazu hatten. So dauerte es bis etwa 2000. Dann ist es in der Gesellschaft irgendwie zur Besinnung gekommen. Dann haben auch die neuen Russen (ein sehr spottischer Begriff) verstanden, dass alleine das Geld einen nicht zur Elite macht. Das Bestreben nach alten Werten schwebte in der Luft, und weil die Luft von Akademgorodok eine besondere ist, hatte es eben da funktioniert. 
         Die Organisatoren vom "Totalny Diktant" (das totale Diktat) wollten den für unsere Traditionen wichtigen Begriff  "intelligent" wieder auf den Höhenpunkt bringen, denn in der Zeit der Perestrojka wurde "intelligent" zum Synonym "Verlierer". 200 Leute wollten beweisen, dass sie keine Verlierer sind, dass es wieder Mode sein soll, fehlerfrei zu schreiben (so lautet das Motto des Projekts). So ging es 5 Jahre vor, dass Texte aus der russischen klassischen Literatur ausgewählt worden waren, jemand sie vorgelesen hat , Diktate  geprüft wurden, Noten erteilt. Schluss. 200 Leute immer dabei.
            Aber 2009 ist jemand auf die Idee gekommen, Psoi Korolenko als "Diktator" (einer, der diktiert, nicht diktatorisch regiert:)))  einzuladen. Statt 200 waren plötzlich 600 Leute gekommen. Ein langweiliges schulisches Diktat wurde plötzlich zu einer Art Show. Das war ein Wendepunkt in der Geschichte des Projekts. 
      2010 haben sich der Nowosibirsker Staatsuniversität weitere Nowosibirsker Unversitäten, Bibliotheken, Schulen angeschlossen, vorgelesen wurde es gleichzeitig an 17 Veranstaltungsorten in der Stadt, mitgemacht haben schon 2 400 Leute, unter denen auch große Geschäftsleute, Wissenschaftler, Minister aus der Gebietsverwaltung zu sehen waren. Der Text  wurde dazu extra von einem bekannten Schriftsteller Boris Strugazky geschrieben, was ich auch sehr symbolisch finde, denn eben Boris Strugazky und sein Bruder Arkady unter einer totalen sowjetischen Zensur Phantasy geschrieben haben, in denen ein intelligenter Mensch unter den Zeilen die Wiederspiegelung der sowjetischen Realität ablesen konnte. Und nicht nur die Wiederspiegelung. Wenn man ihre Bücher heutzutage liest, so kann man eine Gänsehaut kriegen, wie provisorisch die noch in den 60-70-er die geistige und wirtschaftliche Krise beschrieben haben, die heute die ganze Welt befallen hat. Die Gebrüder Strugazky haben für die sowjetische Intelligenzija eine Brücke in die Zukunft gebaut, keine phantastische Zukunft, sondern die, die jetzt meine Gegenwart ist. Es war Mode, Strugazky zu lesen, zu zitieren. Immer noch werden ihre Bücher gut verkauft. Es gibt ewige Werte, deren Geltung nicht vergeht:))
             Über das totale Diktat haben damals alle Nowosibirsker Massmedia erzählt und manche föderale auch.
          Im Februar 2011 wurde das Totalny Diktant mit einem Preis ausgezeichnet, der ein großes Interesse am Projekt in mehreren Städten Russlands geweckt hat.
         2011 haben schon 4785 Leute aus 13 Städten Russlands mitgemacht, der Text wurde wiederum von einem jungen populären Schriftsteller, Kritiker, Journalisten Dmitry Bykow geschrieben.
         2012 waren es schon  14 217 Teilnehmer  in 89 Städten aus 11 Ländern, die sich den Text von Sachar Prilepin haben diktieren lassen. 
        Morgen kommt der Text von Dina Rubina.  Etwa 30 000 Leute in 177 Städten aus 35 Ländern werden den mitschreiben. Meine Lieblingschritstellerin ist dazu nach Nowosibirsk gekommen. Sie lebt eigentlich in Israel, schon lange. Aber sie bleibt eine russische Schriftstellerin, denn sie schreibt auf Russisch und über Russen, wenn auch ihre Charaktere in der ganzen Welt zerstreut sind. Wenn diese Russen auch mal judischer, ukrainischer Herkunft sind, bleiben sie alle trotzdem "russisch", denn all sie sprechen Russisch. Und alle Schriftsteller, die für das Projekt geschrieben haben, halten das für eine große Ehre. Soll ich erklären, warum?
    Ich habe schon geschrieben, dass Nowosibirsk eine Stadt ist, an der man die Zukunft Russlands vorhersagen kann. 200 intelligente Leute brauchten 6 Jahre, damit das Projekt von selbst, von seiner eigenen Kraft wächst, unterstützt nur durch Interessente, Gleichgesinnte. Nowosibirsker haben es geschafft, das Totalny Diktant über die Grenze zu exportieren. Nicht Gas oder Öl. Das haben wir nicht in Nowosibirsk. Sondern, diesen Wunsch, sich fehlerfrei ausdrücken zu können, sich selbst unter Beweis zu stellen, ob man ein Humanum ist, oder ein Verbraucher. Und auf die Weise entstehen und sich entwickeln konnte das totale Diktat nur in Nowosibirsk. Das ist ein magischer Ort, den die russische Intelligenzija für ihren Fortbestand gewählt hat. Ausgesucht. Mit Liebe eingerichtet. Deshalb liebe ich diese Stadt. Aber pst....das ist ein großes Geheimnis.
weitere Fotos sind hier zu sehen 

26.03.13

Im Sommer sollten wir eigentlich etwas weniger Schnee haben...

Es ist schon der 27.März, aber unter Tegs für meinen Post wähle ich immer noch "Winter in Nowosibirsk". Tja...es stimmt. Der Winter ist immer noch da....Leider...aber schon einer mit grauem Schnee. Mein Durchhaltevermögen hält nicht lange mehr aus. Nur noch einige Tage. Gaaaanz wenige Tage. Dann darf ich endlich mal jammern, dass der Winter in diesem Jahr soooo lange dauert, wie noch nie. Dasselbe habe ich auch im vorigen Jahr um die Zeit gesagt. Und vor zwei Jahren. Schon immer.

08.03.13

12 Chellisten der Berliner Philarmoniker


2 Tage vor dem Konzert waren in der Kasse unseres Opernhauses nur noch 3 Tickets übrig. Die weiteren 2 447 Plätzen waren ziemlich schnell ausverkauft. Das Büro von Goethe-Institut in Nowosibirsk und das deutsche Generalkonsulat haben eine sehr gute Werbung gemacht, Poster und Plakate waren überall in der Stadt zu sehen. Aber auch haben die Kenner schon im voraus nachgefragt, wie sieht es eigentlich mit dem Programm Deutschlandsjahr in Russland weiter aus.
Am 3.März war es so weit. Nowosibirsk hat sich so sehr auf das Konzert gefreut, dass sogar das Wetter mitgemacht hat. Es waren etwa +3 und es hat geregnet. 

Die Atmosphäre ist sehr gut auf Fotos von Viktor Dmitriejew zu sehen. Die Auswahl habe ich gemacht.
Fotos vor dem Konzert:



Nach dem Konzert wollten Nowosibirkser die Chellisten nicht los lassen. Eine Applauswelle kam nach der anderen. Die Musiker waren überrascht:


 Und hier ist Nowosibirsk von morgen:


Es war ein sehr schöner Abend:

der 8. März

Neben der russischen Sprache ist der weitere Schatz von Russland russische Frauen. Auch der Name des Landes ist weiblichen Geschlechts, es ist die Rossija. Frauen in Russland sind das, was Russland immer noch durch alle Turbulenzen durchbringt, weil Frauen sehr sachlich und praktisch angelegt sind. Aber auch Romantik und der Glaube ans Wunder ist da. Deshalb tragen Frauen kurze Röcke und hohe Absätze. Auch im Winter, bei Glatteis und -40.  Man muss Frau bleiben. Immer. Sonst ist es aus mit Russland. Deshalb ist der 8. März  eines der wichtigsten Feste in Russland. Es ist zum einen der Frauentag. Alle Frauen kriegen Blumen, Geschenke, ein bisschen mehr Zuwendung und Liebe als sonst im Alltag. Zum anderen ist das das erste Frühlingsfest. Ich bin nun bei meinen Eltern im kleinen Dorf, 200 km von Nowosibirsk entfernt. Es gibt hier zwar einen Internetanschluss, in diesem Dorf mit 800 Einwohnern. Aber der Winter kann da einen bösen Trick spielen. Obwohl offiziel der Frühling da ist (die offizielle und die reale Realität stimmen in Russland nicht immer überein), schneit es wie wild. Wir können nicht raus. Die Straßen sind verweht. Total. Aber ich habe einen triftigen Grund, übermorgen zur Arbeit nicht zu gehen. Ich kann halt nicht in die Stadt. Ein schönes Frühlingsfest ist da:))

03.03.13

Bald kommt der Sommer. Vielleicht...

Total unerwartet hat es heute geregnet. Es ist vielleicht ganz ok für Europa, dass es am 3.März regnet. Aber wir in Nowosibirsk pflegen noch Anfang April durch den Schnee zu laufen. Und heute regnet es. Das ist eine Katastrophe für uns, vergleichbar damit, wie es in Deutschland ankommt, wenn 4 cm Schnee plötzlich im Dezember  auf den Straßen liegen.
Weitere Fotos sind hier  zu sehen.

Wie komisch es sein kann, so habe ich heute doch verstanden, bald kommt der Sommer, mit Ice-Hot-Charlston Sibirea

12.02.13

Nowosibirsk als Erbe dreier Generationen der russischen Intelligenzija


                                                                                      
          Eine 34-jährige „einfache Münsteranerin“ hat Ende November 2012 ihren ersten langen Film „Tage die bleiben“ in Nowosibirsk  vorgestellt. Mit ihm  hat die Regisseurin Pia Strietman das 5. Festival des deutschen Films  eröffnet. Zum langerwarteten Beginn des beliebten Festivals waren etwa 350 Leute gekommen, die Tickets im Voraus besorgt hatten, denn in den 5 Jahren, seitdem das Festival in Nowosibirsk präsent ist,  musste man erfahren, dass sonst Tickets nicht zu bekommen sind.
            In Deutschland war dieser Film bisher kaum in den Kinos zu sehen. Nur etwa 10 000 deutsche Zuschauer haben sich den Film angeschaut. Das sind  viel weniger als 1% der gesamten Bevölkerung Deutschlands. 350 Nowosibirsker sind auch viel weniger als 1% von den 1 500 000 Einwohnern der drittgößten Stadt Russlands. Das heißt, eine vergleichbare Anzahl von Zuschauern hat sich mit dem Thema Tod und Vergebung in der Auffassung von Pia Strietman vertraut gemacht. Im Laufe von nächsten fünf Tagen waren es aber noch einmal etwa 2000 Zuschauer, die sich weitere 14 Filme angeschaut haben, die German Films  und das Goethe-Institut für Russland ausgewählt haben.
          Nach der Vorstellung von „Tage die bleiben“ kamen  die russischen Zuschauer mit Tränen in Augen zu Pia und  drückten  ihr  fest die Hand  oder nickten ihr halt dankend zu. Manche konnten auch auf Deutsch „vielen Dank“ sagen. Pia war beeindruckt von der Offenheit der Nowosibirsker und darüber, wie gut ihr Film angekommen war. Was soll denn das bededuten, dieses Geheimnis von Nowosibirsk? Diese 2000 Zuschauer, die ein Interesse an Deutschland haben? Warum wollten sich diese 350 Nowosibirsker neben "Sky Fall" mit dem coolen Daniel Craig noch diesen -alles andere als unterhaltsamen - Film anschauen? Womit soll ich anfangen, um das zu erklären?

Deutsche Präsenz in Nowosibirsk

             Ist es so, weil wir in Nowosibirsk Lebensmittel bei Metro Cash and Carry einkaufen? Und Haushaltstechnik beim SaturnMarkt? Und Jugendliche gerne Schnäppchen beim New-Yorker machen? Oder ist es das Zusammenspiel von der deutschen Wirtschaft, Kultur- und Bildungsinstitutionen, die in Nowosibirsk  massiv präsent sind? Das Gebiet des Generalkonsulats hier in Nowosibirsk umfasst wohl die größte Fläche auf der ganzen Welt, die ein deutsches Konsulat betreut.
         Über 60 Unternehmen, Mitglieder der deutsch- russischen AHK,  mit  deutschem Kapital bringen  Deutschland auf Platz zwei  der Partnerländer des Gebiets Nowosibirsk. 
         Giganten wie der DAAD, die Robert-Bosch-Stiftung, die Zentralstelle für  das Auslandsschulwesen sorgen dafür, dass immer mehr Jugendliche Deutsch als zweite Fremdsprache wählen, um ihr Studium anschließend in Deutschland fortzusetzen und in Nowosibirsk dann die Brücke zwischen Deutschland und Nowosibirsk weiter zu festigen. Und das nicht nur aus Patriotismus, sondern weil das für viele  eine Chance ist, schon mit etwa 24-25 einen festen Job und tolle Aussichten für die Karriere zu haben. 
         Das Goethe-Institut  hat 2009 ausgerechnet in Nowosibirsk sein drittes in Russland Büro eröffnet, und seit der Zeit kommen immer mehr Projekte in Bereichen Kultur, Kunst, Architektur, Umwelt in Schwung.

Was ist Nowosibirsk





         Warum  ist es ausgerechnet Nowosibirsk, wo sich deutsche und russische Wege so aktiv kreuzen? Ich stelle eine Gegenfrage „wo denn sonst?“. Manche Argumente liegen auf der logischen Ebene: mit 1,5 Millionen Einwohnern ist Nowosibirsk die drittgrößte Stadt Russlands, und als wissenschaftliches, wirtschaftliches und kulturelles Zentrum Sibiriens ist Nowosibirsk die Haupstadt der Westsibirischen Region. 
            Ein Gesichtspunkt, bei dem die Logik nicht weiter hilft, ist, dass sich hier noch vor 120 Jahren  die endlose Taiga ausdehnte und keine Spur vom Leben eines Menschen zu entdecken war. Nichts versprach dem Ort eine glänzende Zukunft.

Bau der Transsib




          Wir, die Russen, neigen durch unsere Sprache und Kultur zum Mystischen. Ich bin da keine Ausnahme, wenn ich auch oft unterstreiche, dass ich eher Sibirierin binm nicht Russin. Sehr viele Umstände forderten, dass die Transsibirischen Eisenbahn gebaut werden sollte, und dass dann eine Brücke über den Ob dafür errichtet werden musste. Rein pragmatische Aufgaben waren das. Bloß bei den Menschen spielen ihre Träume, ihre geistigen Bestrebungen immer mit. Ingenieure, die vor 120 Jahren in Russland mehr als nur Akademiker mit technischer Ausbildung waren, wollten auch weit weg von ihrem gewohnten Komfort ein würdiges Leben führen, und so haben sie vieles in der kleinen Siedlung Alexandrowskoje ins Leben gerufen, was später Nowosibirsk zu Nowosibirsk gemacht hat.
                Es gibt auch im Russischen ein Wort, dessen Stamm „intelligent“ in vielen europäischen Sprachen vorkommt. Nur im Russischen stellt Intellegenzija nicht auf den IQ ab, sondern bezeichnet die Zugehörigkeit zur sozialen Schicht, die eigentlich das geistige Leben um sich herum vorantreibt. Eben diese Schicht sollte gleich nach der Oktober-Revolution von der neuen Macht  vernichtet werden. Sie hat es aber trotzdem geschafft, Wurzeln auch im neuen – sowjetischen -  Land zu schlagen. Unter anderem waren   es Nachkommen von Gründern der Transsib, wenn auch indirekte, nämlich geistige. Letzteres spielt manchmal in Russland eine größere Rolle als  die Blutsbande.

Das Erbe von Leningrad

              Nowosibirsk hat viel von dieser Gesellschaftsschicht mitbekommen. Der Zweite Weltkrieg war dabei eigenartigerweise behilflich. Schon 1941 bestand Nowosibirsk zu 25% aus Leningradern (so hieß damals Sankt-Petersburg), die umgesiedelt worden waren. Es waren Musiker von der Leningrader Philharmonie, Mitarbeiter der berühmten Eremitage und vom Peterhof, die Meisterwerke von diesen Museen nach Sibirien begleitet hatten. 
Im Juli 1941 kam Schostakowitsch nach Nowosibirsk , um seine „Leningrader Symphonie“ aufzuführen. Davor wurde eine Vorlesung über Musik gehalten, zu der 600 Leute gekommen waren. Und das in der schwierigsten Kriegszeit, als die Musik eigentlich  wenig Bezug zum Alltag derer hatte, die nicht an der Front waren, sondern  in den Industriebetrieben "schufteteten", alles für die Front, alles für den Sieg, wie eine der Parolen hieß
             1944 konnten die Leningrader wieder zurück kehren, aber nicht alle haben das getan, weil entweder ihre Wohnungen in Leningrad zerstört oder Familien während der Blokade umgekommen waren. In Nowosibirsk haben sie ihre zweite Heimat gefunden. Diese Menschen, Nachfolger  der  vorrevolutionären russischen Intelligenzija aus Sankt-Petersburg, dieser Wiege der russischen Kultur, sie haben der sibirischen Stadt den Geist ihrer Heimatstadt vererbt. Das war die zweite "Injektion"  vorrevolutionären Geistes der russischen Kultur.

Bau von Akademgorodok




           Die dritte bekam Nowosibirsk 1957, als hervorragende Wissenschaftler nach Nowosibirsk kamen, um Akademgorodok zu errichten, wiederum an einem menschenleeren Ort, 30 km von Nowosibirsk entfernt. Der Bau von Akademgorodok war von seinem geistigen Ursprung her vergleichbar mit dem Bau der Transsib. Wiederum in Sibirien,  von Moskau und Leningrad  weit entfernt, sollte ein großes und für das Land wichtiges Projekt verwirklicht werden.  Es fand sich zunächst ein "verrückter" Wissenschaftler, Michail Lawrentjew , der zwei weitere "Verrückte", die Wissenschaftler Sergej Sobolew   und Sergej Christianowitsch überredete, nach Sibirien zu kommen.  
           Angefangen hat  Akademgorodok mit einem kleinen hölzernen Haus, gebaut für Michail Lawrentjew. Der Mann, (in Kazan geboren, in Moskau ausgebildet und promoviert) der heutzutage Visionär heißen würde, hat die Stadt entworfen, in der das Wichtigste der Wald und die Natur waren, nicht die Bauten. Das Leitprinzip war: kein einziger Baum sollte gefällt werden. Baukräne sollten sich drehen, ohne dabei Bäume zu verletzen. Heute würde man sagen „Grünes Denken“, damals, 1958, nannte man es „verrückt“. 
          Das Leben in Akademgorodok, von Einheimischen   „Akadem“ genannt, war für viele ein Traum, eine Stadt für 65 000 Leute, in der praktisch nur Studenten der Nowosibirker Staatsuniversität, Wissenschaftler aus unterschiedlichen Instituten lebten. Heiß geliebt wurde Akademgorodok nicht nur wegen der schönen Wohnungen im Grünen und wegen der guten Versorgung (was in Nowosibirsk an Lebensmitteln, Kleidung nicht aufzutreiben war, konnten Akademgorodsker problemlos kaufen), sondern wegen der Atmosphäre, ein Kriterium, das in Europa jetzt ein selbstverständlicher Begriff und sogar ein Argument in der Werbung ist,   in der Sowjetunion aber ein Fremdwort war und  im heutigen Russland teilweise immer noch eines ist, das wenig oder kein Gewicht hat. 

Freiheit und moderne Kunst

          Die Atmosphäre in Akademgorodok machten ganz bestimmte Elemente aus, und zwar  konnte man  hier seiner Lieblingsarbeit nachgehen, für die man gutes Geld bekam und für die der Staat alle Bedingungen geschaffen hatte. Und es gab hier einen Luxus, der kaum sonst anderswo in der Sowjetunion zu finden war, das war die Freiheit. Akademgorodok war damals nur der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften  unterstellt, nicht aber  den örtlichen Strukturen, nicht einmal die Kommunistische Partei durfte sich hier einmischen. Denn für Moskau war  das Resultat wichtig, dass nämlich strategische Untersuchungen rechtzeitig erledigt werden. Wie frei es in Akademgorodok zuging, kann man daraus ersehen, dass die erste Ausstellung des verbotenen Malers Michail Schemjakin, und Ausstellungen von Robert FalkPawel Filonow    im Kulturhaus der Wissenschaftler stattfanden, ebenso Konzerte von verbotenen Sängern wie Alexander Galitsch und Wladimir Wysotzky. 

Perestrojka als Sintflut

        Es war "cool", aus Akademgorodok zu kommen, an der Nowosibirsker Staatsuniversität zu studieren, an den Instituten dort zu arbeiten. Bis zur Perestrojka, als auf einmal Wissenschaftler weniger verdienten als eine   Firmen-Sekretärin. Die Wissenschaflter aus Akademgorodok packten deshalb ihre Sachen, ihre Erfahrungen und ihr Ansehen und gingen nach Amerika oder Europa. Das war keine Flucht. Noah  war ja auch nicht geflohen, er hatte nur auf seiner Arche   die Sintflut  überstanden. Als die Umstände es zuließen, kehrten Akademgorodoksker zurück, auf ihren angestammten Boden, nicht alle, aber viele.

IT-Branche als Gegenwart und Zukunft von Nowosibirsk

       Heutzutage hat Akademgorodok sein Ansehen zurückgewonnen, allerdings in einem anderen Bereich, in der IT-Branche. Microsoft und Cisco jagen nach klugen Köpfen unter den Studenten der Nowosibirsker Staatsuniversität bereits im ersten Studienjahr, um nicht zu spät zu kommen, denn die IT ist eine heiß begehrte Branche in Nowosibirsk, in der man tolle Arbeit in einem guten Team finden  oder mit 25-27 nach einem Startup  schon Filialen in der ganzen Welt haben kann. Das sind  ganz reale Geschichte wie bei Dubl Gis, CFTAlawar (casual games), PlaytoxMobisters und vielen anderen. 

Nowosibirsk als Projekt der russischen Intelligenzija

       IT ist der Ausdruck unserer Gegenwart, die auf einer glanzvollen  Vergangenheit des sowjetischen Akademgorodok beruht und eine strahlende Zukunft verspricht, ohne große Worte über Kommunismus, Patriotismus oder ein starkes Russland. Nowosibirsk ist im städtebaulichen Sinn keine gewöhnliche Stadt. Es ist eher ein Projekt dreier Generationen der russischen Intelligenzija, das reiche Früchte trägt.  Es ist eine Art "Kirschgarten" von Tschechow, aber nicht abgehozt, sonder nach Sibirien verlegt.
          An Nowosibirsk kann man den Gesundheitszustand Russlands messen, sogar dessen Zukunft vorhersagen. Wir haben hier kein Öl, kein Gas, kein Gold, nichts von dem, was man häufig Russlands Fluch nennt. Wir haben nur uns selber. Und wie geht es uns dabei heutzutage?
     Wir leben halt hier und sind stolz auf uns, unsere Stadt, in der wir unseresgleichen finden können und das nicht nur online, sondern auch offline. Man trifft sich gerne in den unzähligen Cafes, bei sich zu Hause. Man geht ins Kino, Konzerte, Theater, zu Ausstellungen. Man lebt hier ein interessantes, erfülltes, gefühlvolles Leben. Man kann hier europäisch konsumieren, aber auch seiner geistigen Natur nachgehen und etwas schaffen, was bis jetzt noch keiner gemacht hat. Dafür haben drei Generationen der russischen Intelligenzija gesorgt. Deshalb kann ich mich von dieser Stadt nicht trennen, wenn ich auch unheimlich gerne Berlin mag und die deutsche Kultur über Sprache und europäisches Denken aufgesogen habe. Aber ich gehöre hierher, in die Stadt, wo ich an der Zukunft mitgestalten kann.

Das Ende der Welt erleben


          Das mag für einen Europäer komisch klingen, aber es stimmt trotzdem. Die Stadt, die jemand aus Europa für das Ende der Welt halten kann, bietet so viel an, wie zum Beispiel ein Konzert von Denis Mazujew, in dem er am 21.01.2013 im größten Opernhaus Russlands am nagelneuen Steinway  -Flügel spielen wird. Oder Anfang März wird es bei der  „Nacht in der Metro“  ein Konzert der besten Musiker geben, die in der Metro musizieren werden. Jedes Jahr kann man Mitte Januar  Schneeskulpturen bewundern, die während des internationalen  Schneeskulpturen-Festivals geschaffen werden. Daran schließen sich sehenswerte Ausstellungen von Barbara Klemm oder Arno Fischer  an. Nicht zu vergessen ist das Konzert der 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker  und  die „Messe“ von Bernstein, sowie das jährliche Festival zeitgenössischer Musik "Sibirische Saisons", dessen Name auf die berühmten "Russischen Saisons" hinweist,   und vieles vieles mehr...
        Bekommt man da nicht das Gefühl, das Ende der Welt ist irgendwo viel weiter weg? Und hier ist die eigentliche Welt, hier darf man sein?

 PS. Ich bedanke mich recht herzlich beim Herrn Kiesl und Herrn Schäfer aus dem Forum der russischen Kultur für Ihre Hilfe mit Tat und Rat bei diesem Bericht. Herr Kiesl, der 1.Vosritzende des Forums der russischen Kultur hat mich gebeten, im "Forum Report 2012"  Nowosibirsk vorzustellen. So ist dieser Text entstanden. Inspiration braucht mal  eine extra Einladung:)))