19.12.12

Der Frost und Mephisto


       
        Seit über zwei Wochen habe wir einen richitgen Frost, bis -44. In der Stadt ist es relativ wärmer, wenn man annehmen könnte, dass 5 Grad da eine Rolle spielen könnten. Auf dem Lande, wo Abgаse die Luft nicht erwärmern, sind es -44. Die Städtler vergnügen sich mit -36-39. Bei so einer bissigen Kälte hat man wenig Lust, etwas draußen zu unternehmen, außer schnell von zu Hause zur Arbeit und zurück zu rennen. Shopping und Cafes verlieren auch an ihrer Attraktivität. Ich frage mich mal auch ganz ernst, ob ich wirklich einkaufen gehen soll, vielleicht ist es höchste Zeit, eine Diät zu halten. Aber dann verstehe ich, dass bei -36 mein Körper doch Energie braucht, um die Kälte zu bekämpfen.
          Nach etwa einer Woche von so einem Leben möchte man doch was schönes erleben. Und wenn man nicht gerne ausgeht, so richtet einer sein Leben drinnen ganz gemütlich ein, sei es auch sein eigenes Zuhause oder die Uni.
          So hat  eine Dozentin von der Nowosibirsker Medizinuniversität, ein Fan von unserem Opernhaus, eine Überaschung für ihre Studenten vorbereitet. Ganz ruhig hat sie die Vorlesung über ethische Probleme in der Eugenik und bei genethischen Manipulationen gehalten, dabei hat sie die Stellung der christlichen Kirche zur Verjüngung erwähnt und ihre Medizinstudenten an die Legende über Doktor Faust von Goethe erinnert.
Und da springt plötzlich ein Student im weißen Artzkittel auf und singt die erste Strophe aus der Oper "Faust" von Charles Gounod vor. Was dabei auffällt, ist es, dass die Stimme eingetlich zu schön für einen Medizinstudenten ist. Und es hat sich herausgestellt, dass es ein bekannter Opernsänger Karen Mowsessjan ist. Seinem Gesang schließen sich auch weitere Opernsänger an, die die Dozentin Julija Maximowa zu ihrer Vorlesung eingeladen hat.
Zu sehen ist das ganze hier, ab 0:33

Das war ein Flash-Mob des Opernhauses aus dem geistreichen Projekt "Wir besingen diese Stadt neu". So amüsieren wir uns, wenn es draußen kalt ist. Kalt draußen heißt ja nicht, dass das Leben erfriert. Da sind wir gezwungen, sich etwas einfallen zu lassen, damit der Geschmack des Lebens nicht vergeht.
Man sieht sich:))

04.12.12

Es hat geschneit. Es schneit. Es wird schneien.





       Es schneit wie verrückt. Seit Wochen. Vor zwei Wochen hat es an einem Tag rekordenweise genau so viel geschneit, wie sonst in drei Monaten. Und es schneit immer noch. Und es wird schneien, sicher wird es noch weiter schneien. Der Schnee liegt bei uns bis etwa Anfang oder Mitte April. Und wenn der Schnee da ist, so ist es der Winter. Wenn es auch erst Ende Oktober ist, oder auch Anfgang April. Man unterscheidet also den herbstlichen Winter, den winterlichen Winter und den Frühjahrswinter. Den winterlichen Winter zeichnet die Kälte bis -35-45 aus. Aber das dauert nicht lange. Die durchschnittlichen Temperaturen sind dann etwa -16-20. Aber da kommt die gute Nachricht, und zwar ist die Kälte trocken und ich persönlich finde unsere -20 viel angenehmer als -10 in Deutschland. Und die Sonne scheint oft, was viele Ausländer täuscht, die dann auf der Straße dadurch auffallen, dass sie keine Schapka aus gutem Pelz auf dem Kopf tragen, nicht mal eine Mütze aus Wolle. 
       Was tun wir gegen Kälte? Eigentlich wenig. Man zieht sich warm an und das finde ich auch schön. Ganze fünf Monate muss ich mir morgens den Kopf darüber nicht zerbrechen, was soll ich mir nun anziehen, denn die Antwort ist eindeutig, und zwar lautet sie "etwas warmes". Wenn es gaaanz kalt ist, so muss man sich an das Zwiebel- Prinzip erinnern, einige Schichten Kleidung halten die Wärme gut. Sollte es noch kälter werden, so hilft da ein guter Pelz, was bei -40 kein Luxux ist, sondern eine Notwendigkeit. Und was die Grünen dazu sagen würden, interessiert mich wenig. Auf Schuhe mit dicken rutschfesten Sohlen ist es  nicht zu verzichten. Manche, wenn nicht viele russische Frauen schaffen es aber,  auch im Winter tolle feminine Stiefel mit wahnsinnig hohen Absätzen zu tragen. Wie sie das hinkriegen, verstehe ich nicht. Aber so ist das.
         Tee trinken hilft auch gut. Oder lieber nicht Tee, sondern viel Tee. Tee mit Honig erwärmt noch besser. Der Honig sollte dabei lieber aus der Altaj-Region stammen, das sind fast Synonyme bei uns, Honig und Altaj. Und der Tee sollte lieber in der Teekanne aufgebrüht werden, Teebeutel wären eben falsch. Die sind zwar praktisch, aber der richtige Duft fehlt da. Tee ist sehr wichtig in unserer Kultur. Wir sind nicht Leute aus einer Kaffekultur, obwohl es in den letzen 10 Jahren Mode geworden ist, sich im Cafe zu einer Tasse Kaffee zu treffen. Wir sind Teetrinker und das tun wir nicht nur um five o'clock. Es wurde halt unter uns zu einer Art Begrüßung, wenn man seinen Besuch gleich an der Schwelle  fragt "wirst du Tee trinken?" Die richtige Antwort ist "ja". Und Tee heißt nur so "Tee", eigentlich gehören dazu belegte Brote, Suppe, Braten, Pirozhki u.s.w. Der Tee kommt am Ende. Und eine sehr wichtige Zutat für den richtigen sibirischen Tee ist ein warmes Gespräch, von Herz zu Herz. Das erwärmt sehr, ist  sogar lebenswichtig, wenn es draußen kalt ist. Gespräche beim Teetrinken halten uns zu einander fest, es ist eine Art von Sozialnetzwerken, die wir aufgebaut haben, als es noch kein Internet gegeben hat, nicht mal als Idee übers Internet.
       Was tun wir im Winter außer Tee trinken? Wir leben weiter. Man ist bloß auf das Leben drinnen oder auch auf das innerliche Leben angewiesen. Manche greifen zu  Bergskier und fahren nach Scheregesch, oder man greift  zu normalen Laufskier, oder auch zu Schlittschuhen. Ich greife zu Büchern. Es ist unheimlich gemütlich, diesen Unterschied zu beobachten, zu erleben, den Unterschied zwischen Kälte draußen und  Wärme drinnen, dem Schneegestöber draußen und der Ruhe drinnen. Und schön ist der Zusammenklang zwischen der Ruhe drinnen und der innerlichen Ruhe. Dunkel wird es im Dezember schon um etwa halb fünf. Und dann leuchtet mein Fenster gelb. Und viele andere auch. Und es ist ein Zeichen dafür, dass das Leben nicht stillgeblieben ist. Der Winter ist meine Lieblingsjahreszeit, die halte ich für eine sehr russische Jahreszeit, die uns zwingt, geduldig zu sein und gläubig zu werden, wenn auch nicht unbedingt kirchlich. Nur auf den ersten Blick ist alles tot. Nur wenn man sich das richtig überlegt, versteht man, dass unter ein-zwei Meter Schnee das Leben keimt, das noch nicht zu sehen ist. Man muss abwarten. Der Winter ist bloß eine Schnapppause, die sich die Erde nimmt, um sich zu erholen, Kräfte für den nächsten Sprung zu sammeln. Es ist nicht der Tod der Natur. Es ist ein Versprechen vom Leben, von der Auferstehung. Glauben wir denn deswegen so gerne?