17.11.12

Echter russischer Schatz oder wie ist die russische Seele zu verstehen

       Die wichtigste Entscheidung in meinem Leben habe ich im Frühling 1993 getroffen, 3 Monate vor Abitur, als ich verstanden habe, dass ich nicht Mathe studieren möchte, wie ich in den letzen 5 Klassen geglaubt hatte, sondern Deutsch. Ohne Deutsch wäre ich das nicht geworden, was ich jetzt bin. Deutsch hat mich, mein Leben in sehr vielen Hinsichten umprogrammiert. Und eine der wichtigsten Folgen dieser Umprorgammierung war es, dass ich verstanden habe, was eigentlich Russisch ist. Was heisst es, Russe zu sein, habe ich nur durch Deutsch verstanden. Wie komisch es auch klingen kann, stimmt das trotzdem. Da frage ich mich nur, ob sich alle Deutsche wirklich bewusst sind, was es heißt, Deutsche zu sein und über was für einen Schatz Deutsche verfügen? Ich meine jetzt nicht die gelebte Demokratie, sondern die deutsche Sprache. Ich habe das Gefühl, dass das richtige Bewußtsein seiner Zugehörigkeit zu einem Volk nur durch eine Fremsprache kommen kann, die eine total andere Struktur hat, einen total anderen Klang. Man flieht erst mal in die Fremdsprache, wie einer ins Ausland mit der Hoffnung auf das andere - beste -  Leben, um später zu seinen Wurzeln zu kommen, aber schon mit viel Einsehen, Liebe und Stolz.
      Deutsch wurde für mich langsam zum Spiegel, in dem ich mein eigenes Land, meine Sprache, meine Kultur gesehen und neu entdeckt habe.
       Ich unterrichte seit 16 Jahren Deutsch, erstmal an einer Uni, jetzt privat. Inzwischen habe ich mein eigenes methodisches System herausgearbeitet und mehrmals an über hundert Kursteilnehmern ausprobiert. Es basiert auf der Aussprache. Ich fange meinen Kurs nicht mit "ich heiße ...", "wie heißen Sie" oder "wie geht es?" an, sondern damit, dass ich einem beibringe, wie man Laute einer anderen Sprache artikuliert, wie anders als in der Muttersprache die Intonation steigt und fällt. Ich sehe, wie schnell bei meinen Kursteilnehmern die richtige Uhr zu ticken beginnt. Durch die Aussprache fließt  man in die Welt einer anderen Sprache rein, man taucht in dieses Meer eines anderen Lebens, des Lebens mit einem anderen Blickwinkel unter.
     Ich bin da mit der Zeit zu einer merkwürdigen Beobachtung gekommen. Berühmte (mindestens in Russland) deutsche Ordnung fängt nicht mit der sauberen Straße an, sondern mit dem deutschen Satz. Festgelegte Wortfolge lässt einen die erst dann verletzen, wenn der Fall den Sprecher dazu zwingt, wenn man etwas hervorheben möchte. Deutsche wagen es, die Regel zu verletzen, um Emotionelles voranzurucken. Man jongliert nicht so frei mit der Wortfolge wie im Russischen. Man baut Wort für Wort, jedes Teilchen steht da, wo es die Regel  vorschreibt, wenn die auch nicht schriftlich festgelegt ist, wenn auch der deutsche Muttersprachler die nicht ganz genau kennt. Vielleicht  liegt da die deutsche Qualität, die zur Verkörperung der qualitativsten Qualität geworden ist? Ein deutsches Auto fährt lange auch ohne Wartung, weil alle Teile an einander aufs engste anpassen, wie Wörter in einem deutschen Satz. 
        Deutsche im Vergleich zu Russen sind sehr aufmerksame Zuhörer. Ob sich alle Deutsche dessen bewußt sind, dass halt die Sprache sie dazu verpflichtet? Man muss ja immer auf das Satzende aufpassen, wo mal eine Verneinung vorkommen kann, mal ein zweites Verb oder sich ein Präfix vom Verbstamm verabschiedet hat.
         Ich habe das Gefühl, dass Deutsche Weltmeister in Fragen technische Errungenschaften sind, sei es eine Druckmaschine oder ein Röntgenapparat. Dass so viele Technische Erfindungen aus Deutschland stammen, hat für mich eine auf den ersten Blick   komische Erklärung. Da ist wiederum die Sprache im Spiel. Wenn man sich ans Thema deutsche Aussprache macht, so muss man als erstes erklären, dass Vokale im Deutschen kurz oder lang sind und dass es ein sinntragender Unterschied ist. Beim Hören  soll "Staat"  nicht mit "Stadt" verwechselt werden. Und "Kahn" mit "kann". Als ich an der Uni an der deutschen Aussprache geschliffen habe, musste ich halt in mich hinein bis 2-3 zählen, damit der lange Vokal richtig lang ausfällt. Ich habe also gezählt, die Dauer des Vokals gemessen, und Technik ist eben das, was zu messen ist.  Gute Maschinen werden da gut, wenn alles korrekt gemessen ist und nicht ein einziges Mal, sondern systematisch. Wäre denn die Trennung in lange und kurze Vokale nicht eine Voraussetzung für Deutsche, in der technischen Revolution Vorreiter zu sein? 
     Noch Joseph Brodsky -  russischer Poet, amerikanischer Bürger mit judischen Wurzlen, Nobelpreisträger -  hat in einem Essey geschrieben, dass Gedichte aus einer Sprache in die andere nicht zu übersetzen sind, nicht nur wegen des Wortschatzes und der grammatischen Struktur, sondern eher wegen der Prosodie, des melodischen Verlaufs der Sprache. Die Melodie einer Sprache ist laut Brodsky die Art und Weise, den Raum zu gliedern, ihn zu bewohnen, sich ihn anzueignen. Deutsch hat sich seinen Raum angeeignet, in dem es ihn phonetisch bemessen  hat, grammatisch strikt zugeordnet, lexikalisch ganz logisch und transparent benannt. "Dessert" zum Beispiel heisst mit einem deutschen Wort "Nachtisch", weil dies Essen zu sich wirklich danach genommen wird, wenn der Tisch aufgeräumt ist, also nach dem Tisch.
             So ist Deutsch für mich halt zum Denkmal des vernünftigsten Umgangs mit Leben geworden. Bloß eine Anmerkung in der allerersten Stunde meines phonetischen Kurses fällt  gleich, und zwar sage ich immer, dass die Artikulation deutscher Laute viel mehr angespannter ist als die der russischen. Artikulation von russischen Lauten ist total entspannt, die Intonation schwebt in der Luft und bleibt mal hängen, mal fällt sie runter an einer komischen Stelle. Sprechorgane eines Russen sind faul. Wenn ein Deutscher das russische Wort "moloko" (Milch) sieht, so fängt der auch ganz brav an, es Laut für Laut so vorzulesen, wie es geschrieben ist. So guckt dann ein Russe verwundert diesen Deutschen an, denn richtig ausgesprochen wird das Wort dann eben als "malako". Die unbetonten Vokale haben ihre Qualität verloren. Ist das nicht die Erklärung dafür, warum ein Lada nie im fernen Ausland so begehrt wie ein VW wird? Und wäre nicht das eine Erklärung dafür, warum wir uns so sehr mit der Demokratisierung schwer tun? Der unbetonte Vokal verliert an der Qualität, nur der betonte zählt.
                   Der Höhepunkt der totalen Entspannung im russischen Leben ist der Vokal "ы", der zum Beispiel in der ersten Silbe des Familiennamens Bykow ausgesprochen wird. Das ist der tykischste Laut für einen Ausländer. Vielleicht sollte da ein kleines bißchen Alkohol helfen, sich zu entspannen, damit der Vokal richtig entspannt ausfällt?
           Aber dass unsere Sprechorgane so faul sind, hat da einen Vorteil, wenn wir uns an eine Fremdsprache machen. Ich habe mehrmals von deutschen Dozenten gehört, dass es Russen sind, die akzentrei sprechen können. Faule Sprechorgane können es mal lernen, sich angespannt zu bewegen und dadurch eine beliebige, aber wirklich eine beliebige Aussprache akzentfrei zu beherrschen. Kann denn ein Deutscher das verlernen, angespannt Laute auszusprechen? Sich nicht richitg  entspannen zu können hat die europäishe Welt zur Psychanalyse gebracht. Oder war der Grund dazu ein anderer? Lustig ist für mich nur bei einem einzigen deutschen Laut, und zwar bei "h", einem Russen, der schon gelernt hat, gut genug seine Sprechorgane anzuspannen,  nun zu erklären, dass er sich entspannen muss, sonst kommt endweder ein Ach-Laut oder ein Ich-Laut hervor, was falsch wäre. 
                Das mit "moloko", welches als "malako" ausgesprochen wird, kommt da bei einem Ausländer nicht die Frage, woher soll denn ein Russe wissen, wie das Wort eigentlich korrekt geschrieben werden muss? Und da kommen wir eben zum Titel dieses Artikels. Nur ein gebildeter Russe kann richtig dieses und viele andere Wörter schreiben. Richtig gebildet wird man bei uns nur durchs Lesen. Man kann als gebildet zählen, aber beim Schreiben kommt die Wahrheit ans Licht. 
                 Bei manchen Wörtern muss man sich halt prägen, wie sich die schreiben, bei anderen muss man für einen unbetonten Vokal so ein stammvervandtes Wort finden, wo der Vokal in der starken, also in der betonten Position vorkommt, und da soll wiederum der Wortschatz ziemlich reich sein. Erklärt denn nicht eben das, warum russische Literatur weltberühmt ist, weil wenn einer schon ein Mal das stammverwandte Wort gefunden hat, dann noch Mal und noch Mal und da ist schon "Idiot " oder "Anna Karenina" fertig?
            Der echte russische Schatz wäre der  Wort-Schatz, also Russisch, und darunter eine der größten Perlen sind Suffixe, die einem Wort so viel von der subjektiven Weltwahrnehmung verleihen, dass für die Objektivität wenig oder kein Platz bleibt. Man nimmt halt einen Stamm von einem Wort und reiht dazu ein Suffix hinten dran und da ist schon klar, wie der Sprechende zur Welt steht, die er in einem Satz eben beschrieben hat. Als Gegenargument reiht man da zu demselben Stamm ein anderes Suffix ran und der Vis-a-Vis weiß nicht mehr, was zu antworten, wenn der nicht über einen reichen Wortschatz verfügt. (bei uns heisst so einer "er greift  nach den Wörtern nicht aus der Tasche", d.h. er muss die nicht in einem Wörterbuch suchen, sondern kann die schnell auf Bedraf aus dem Kopf gleich herausfischen) Wie kann denn ein kleines Suffix  so viele Gefühle beherbergen, die ein russischer Muttersprachler aber gleich abliest? Ein Suffix ist nicht einmal ein Redeteil. 
       Wir können übrigens unsere Vokale auch dehnen, und Konsonanten dazu, wenn wir besonders expressiv unsere Gefühle ausdrücken möchten. Diese Quantität ist zwar nicht sinnunterscheidend, verleiht aber den Gefühlen noch mehr Gewicht. Und sind es denn nicht Gefühle, die den Sinn des Lebens ausmachen?
           Was den Sinn eines Wortes bei uns unterscheidet, ist die Weiche und die Härte. Ein Konsonant, gleich geschrieben, kann abhängig von umgebenden Vokalen weich oder hart ausgesprochen werden und dadurch kommt es zu einem anderen Sinn. Das ABC enthält dazu noch extra ein Weichheitszeichen (ь) und ein hartes Zeichen (ъ). Können denn die Härte und Weiche gemessen werden? Vieilleicht, aber nicht in diesem Fall. Man bekommt das nur zu spüren, zu fühlen. Und da kommen wir wiederum zu dem Grund, warum Russen so empathisch sind. Es ist die Sprache, die  uns dazu verpflichtet. Russisch hat seinen Raum, diese unendlichen Weiten, mit einer schwebenden Intonation, harten und weichen Konsonanten gegliedert. Das Land ist riesengroß, es lohnt sich nicht, in die Sprache eine Einheit einzuführen, um es zu bemessen. Und viele Ausländer tun sich total schwer, russische Konsonanten genau richtig hart und weich auszusprechen, da bleibt die Härte immer herauszuhören. Die russische Sprache hat ja dafür gesorgt, dass wir nie verlernen, zu fühlen. Wir hätten nicht Öl exportiren müssen, sondern unsere Sprache und unsere Fähigkeit, zu fühlen. Ich vermute, das fehlt jetzt irgendwie in der ganzen Welt.
          Wie ist die geheimnissvolle russische Seele zu verstehen? Leider nur durch die Sprache, durch unsere Literatur, Filme, lieber im Original. Aber Russisch hat schon dafür gesorgt, dass nur derjenige es schafft, der das als Ziel festgesetzt hat. Man lernt Russisch nicht aus purem Interesse, sonst scheitert man da schnell. Man lernt Russisch eher deswegen, weil man ein Geheimnis lösen möchte. Und das sind wenige auf der Erde. Nicht viele Ausländer schaffen es, sich zu entspannen. Wenn schon, dann muss man Kraft und Mut haben,  im anscheinenden Chaos grammatische Regeln zu finden, die mit so viel Ausnahmen versehen sind, dass diese praktisch die Regeln abschaffen. Wenn man auch das hinter sich hat, so muss man dann mit der Rechschreibung kämpfen, in dem man viel liest. Und erst dann, mit villeicht etwa  über 70, begreift man endlich, was es heißt, Russe zu sein, weil man es selber geworden ist. Wie viele schaffen es? Ich persönlich kenne drei Deutsche, die wenigstens akzentfrei Russisch sprechen. Und die wollen komischerweise nicht nach  Deutschland zurück. 
      Wie hat denn Deutsch mich umprogrammiert? Meine Gefühle haben dank Deutsch eine Bahn bekommen, ich greife auf die Härte der deutschen Logik zurück, wenn ich das brauche.Und ziehe unter die weiche Decke von Gefühlen zurück, wenn die Logik zu sehr in meinem Leben vorreitet. So einfach funktioniert es bei mir, wie bei einem Zugvogel, der zwei Heimaten hat.



15.11.12

6 Millionen Menschen in den USA haben auf die IT-Lösung aus Nowosibirsk während der Präsidentenwahlen zurückgegriffen

             Ein Nowosibirsker IT-Unternehmen, EastBanc Technologies, hat auf den Auftrag von PEW eine Cloud-Lösung Polling Place Locator für die Präsidentenwahlen in den USA am 06.11.2012 entwickelt. Amerikanische Wähler konnten ihre Adresse auf Facebook angeben und dadurch hat man die genaue Adresse vom Wahlstandort in der Gegend bekommen und eine Liste von Dokumenten, die man dabei haben muss. Die Los Angeles Times hat diese Lösung eine der nützlichsten Entwicklung auf  Facebook an diesem Tag gennant.
           Tja, kein Wunder eigentlich, dass IT-Leute aus Nowosibirsk auf die Weise etwas zu den Wahlen in den USA beigetragen haben. Die IT-Branche aus Nowosibirsk hat einen sehr guten Ruf in ganz Russland und nicht nur. Microsoft, Cisco jagen hinter klugen Köpfen her, wenn die  an der NSU erst immatrikuliert werden, sonst ist man zu spät, und diese klugen IT-Köpfe werden für die Konkurrenz arbeiten. Die NSU, 1959 gegründet, ist  ein genauso so wichtiges Symbol für Nowosibirsk wie das Opernhaus , wenn auch nicht bedeutender. Nicht jeder in Russland kann wissen, dass das größte Opernhaus Russlands in Nowosibirsk liegt. Aber noch in der Sowjetunion, als man "Nowosibirsk" gehört hatte, konnte dann einer nachfragen "ach ja, Nowosibirsk ist das, was bei Akademgorodok mit der NSU liegt".
          Die NSU ist eines der Kinder vom berühmtesten Akademgorodok, und was sie eigentlich für uns, Nowosibirsker, heisst, kann man an so einem Beispiel erklären, und zwar wir haben in der Stadt etwa 32 Universitäten und Hochschulen insgesamt. Und nur bei einer darf man sagen "ich habe die Uni absolviert", ohne zu nennen, was für eine das war, denn nur die NSU heisst in der Nowosibirsker Umgangssprache "DIE Uni".
           Eben von dieser Uni kam Ende 80-er ein in der ganzen Sowjetunion total populärer Witz "liebe Partei, lass uns auch ans Steuer". Heutzutage wäre das in Sozialnetzwerken zu einem Mem geworden, vielleicht auch schnell vergessen. Da wir damals durch KWN vernentzt waren,  ist dieser Witz bis jetzt in meinem Gedächtnis geblieben, obwohl ich damals etwa 12-13 war. Aber der Witz, auf dem Ersten Kanal (dem ersten von zwei für ganzes Land) übertragen, war so frech, dass man sich auch als Teenager das irgendwie merkt und durch ganzes Leben als Motto mitnimmt.