12.02.13

Nowosibirsk als Erbe dreier Generationen der russischen Intelligenzija


                                                                                      
          Eine 34-jährige „einfache Münsteranerin“ hat Ende November 2012 ihren ersten langen Film „Tage die bleiben“ in Nowosibirsk  vorgestellt. Mit ihm  hat die Regisseurin Pia Strietman das 5. Festival des deutschen Films  eröffnet. Zum langerwarteten Beginn des beliebten Festivals waren etwa 350 Leute gekommen, die Tickets im Voraus besorgt hatten, denn in den 5 Jahren, seitdem das Festival in Nowosibirsk präsent ist,  musste man erfahren, dass sonst Tickets nicht zu bekommen sind.
            In Deutschland war dieser Film bisher kaum in den Kinos zu sehen. Nur etwa 10 000 deutsche Zuschauer haben sich den Film angeschaut. Das sind  viel weniger als 1% der gesamten Bevölkerung Deutschlands. 350 Nowosibirsker sind auch viel weniger als 1% von den 1 500 000 Einwohnern der drittgößten Stadt Russlands. Das heißt, eine vergleichbare Anzahl von Zuschauern hat sich mit dem Thema Tod und Vergebung in der Auffassung von Pia Strietman vertraut gemacht. Im Laufe von nächsten fünf Tagen waren es aber noch einmal etwa 2000 Zuschauer, die sich weitere 14 Filme angeschaut haben, die German Films  und das Goethe-Institut für Russland ausgewählt haben.
          Nach der Vorstellung von „Tage die bleiben“ kamen  die russischen Zuschauer mit Tränen in Augen zu Pia und  drückten  ihr  fest die Hand  oder nickten ihr halt dankend zu. Manche konnten auch auf Deutsch „vielen Dank“ sagen. Pia war beeindruckt von der Offenheit der Nowosibirsker und darüber, wie gut ihr Film angekommen war. Was soll denn das bededuten, dieses Geheimnis von Nowosibirsk? Diese 2000 Zuschauer, die ein Interesse an Deutschland haben? Warum wollten sich diese 350 Nowosibirsker neben "Sky Fall" mit dem coolen Daniel Craig noch diesen -alles andere als unterhaltsamen - Film anschauen? Womit soll ich anfangen, um das zu erklären?

Deutsche Präsenz in Nowosibirsk

             Ist es so, weil wir in Nowosibirsk Lebensmittel bei Metro Cash and Carry einkaufen? Und Haushaltstechnik beim SaturnMarkt? Und Jugendliche gerne Schnäppchen beim New-Yorker machen? Oder ist es das Zusammenspiel von der deutschen Wirtschaft, Kultur- und Bildungsinstitutionen, die in Nowosibirsk  massiv präsent sind? Das Gebiet des Generalkonsulats hier in Nowosibirsk umfasst wohl die größte Fläche auf der ganzen Welt, die ein deutsches Konsulat betreut.
         Über 60 Unternehmen, Mitglieder der deutsch- russischen AHK,  mit  deutschem Kapital bringen  Deutschland auf Platz zwei  der Partnerländer des Gebiets Nowosibirsk. 
         Giganten wie der DAAD, die Robert-Bosch-Stiftung, die Zentralstelle für  das Auslandsschulwesen sorgen dafür, dass immer mehr Jugendliche Deutsch als zweite Fremdsprache wählen, um ihr Studium anschließend in Deutschland fortzusetzen und in Nowosibirsk dann die Brücke zwischen Deutschland und Nowosibirsk weiter zu festigen. Und das nicht nur aus Patriotismus, sondern weil das für viele  eine Chance ist, schon mit etwa 24-25 einen festen Job und tolle Aussichten für die Karriere zu haben. 
         Das Goethe-Institut  hat 2009 ausgerechnet in Nowosibirsk sein drittes in Russland Büro eröffnet, und seit der Zeit kommen immer mehr Projekte in Bereichen Kultur, Kunst, Architektur, Umwelt in Schwung.

Was ist Nowosibirsk





         Warum  ist es ausgerechnet Nowosibirsk, wo sich deutsche und russische Wege so aktiv kreuzen? Ich stelle eine Gegenfrage „wo denn sonst?“. Manche Argumente liegen auf der logischen Ebene: mit 1,5 Millionen Einwohnern ist Nowosibirsk die drittgrößte Stadt Russlands, und als wissenschaftliches, wirtschaftliches und kulturelles Zentrum Sibiriens ist Nowosibirsk die Haupstadt der Westsibirischen Region. 
            Ein Gesichtspunkt, bei dem die Logik nicht weiter hilft, ist, dass sich hier noch vor 120 Jahren  die endlose Taiga ausdehnte und keine Spur vom Leben eines Menschen zu entdecken war. Nichts versprach dem Ort eine glänzende Zukunft.

Bau der Transsib




          Wir, die Russen, neigen durch unsere Sprache und Kultur zum Mystischen. Ich bin da keine Ausnahme, wenn ich auch oft unterstreiche, dass ich eher Sibirierin binm nicht Russin. Sehr viele Umstände forderten, dass die Transsibirischen Eisenbahn gebaut werden sollte, und dass dann eine Brücke über den Ob dafür errichtet werden musste. Rein pragmatische Aufgaben waren das. Bloß bei den Menschen spielen ihre Träume, ihre geistigen Bestrebungen immer mit. Ingenieure, die vor 120 Jahren in Russland mehr als nur Akademiker mit technischer Ausbildung waren, wollten auch weit weg von ihrem gewohnten Komfort ein würdiges Leben führen, und so haben sie vieles in der kleinen Siedlung Alexandrowskoje ins Leben gerufen, was später Nowosibirsk zu Nowosibirsk gemacht hat.
                Es gibt auch im Russischen ein Wort, dessen Stamm „intelligent“ in vielen europäischen Sprachen vorkommt. Nur im Russischen stellt Intellegenzija nicht auf den IQ ab, sondern bezeichnet die Zugehörigkeit zur sozialen Schicht, die eigentlich das geistige Leben um sich herum vorantreibt. Eben diese Schicht sollte gleich nach der Oktober-Revolution von der neuen Macht  vernichtet werden. Sie hat es aber trotzdem geschafft, Wurzeln auch im neuen – sowjetischen -  Land zu schlagen. Unter anderem waren   es Nachkommen von Gründern der Transsib, wenn auch indirekte, nämlich geistige. Letzteres spielt manchmal in Russland eine größere Rolle als  die Blutsbande.

Das Erbe von Leningrad

              Nowosibirsk hat viel von dieser Gesellschaftsschicht mitbekommen. Der Zweite Weltkrieg war dabei eigenartigerweise behilflich. Schon 1941 bestand Nowosibirsk zu 25% aus Leningradern (so hieß damals Sankt-Petersburg), die umgesiedelt worden waren. Es waren Musiker von der Leningrader Philharmonie, Mitarbeiter der berühmten Eremitage und vom Peterhof, die Meisterwerke von diesen Museen nach Sibirien begleitet hatten. 
Im Juli 1941 kam Schostakowitsch nach Nowosibirsk , um seine „Leningrader Symphonie“ aufzuführen. Davor wurde eine Vorlesung über Musik gehalten, zu der 600 Leute gekommen waren. Und das in der schwierigsten Kriegszeit, als die Musik eigentlich  wenig Bezug zum Alltag derer hatte, die nicht an der Front waren, sondern  in den Industriebetrieben "schufteteten", alles für die Front, alles für den Sieg, wie eine der Parolen hieß
             1944 konnten die Leningrader wieder zurück kehren, aber nicht alle haben das getan, weil entweder ihre Wohnungen in Leningrad zerstört oder Familien während der Blokade umgekommen waren. In Nowosibirsk haben sie ihre zweite Heimat gefunden. Diese Menschen, Nachfolger  der  vorrevolutionären russischen Intelligenzija aus Sankt-Petersburg, dieser Wiege der russischen Kultur, sie haben der sibirischen Stadt den Geist ihrer Heimatstadt vererbt. Das war die zweite "Injektion"  vorrevolutionären Geistes der russischen Kultur.

Bau von Akademgorodok




           Die dritte bekam Nowosibirsk 1957, als hervorragende Wissenschaftler nach Nowosibirsk kamen, um Akademgorodok zu errichten, wiederum an einem menschenleeren Ort, 30 km von Nowosibirsk entfernt. Der Bau von Akademgorodok war von seinem geistigen Ursprung her vergleichbar mit dem Bau der Transsib. Wiederum in Sibirien,  von Moskau und Leningrad  weit entfernt, sollte ein großes und für das Land wichtiges Projekt verwirklicht werden.  Es fand sich zunächst ein "verrückter" Wissenschaftler, Michail Lawrentjew , der zwei weitere "Verrückte", die Wissenschaftler Sergej Sobolew   und Sergej Christianowitsch überredete, nach Sibirien zu kommen.  
           Angefangen hat  Akademgorodok mit einem kleinen hölzernen Haus, gebaut für Michail Lawrentjew. Der Mann, (in Kazan geboren, in Moskau ausgebildet und promoviert) der heutzutage Visionär heißen würde, hat die Stadt entworfen, in der das Wichtigste der Wald und die Natur waren, nicht die Bauten. Das Leitprinzip war: kein einziger Baum sollte gefällt werden. Baukräne sollten sich drehen, ohne dabei Bäume zu verletzen. Heute würde man sagen „Grünes Denken“, damals, 1958, nannte man es „verrückt“. 
          Das Leben in Akademgorodok, von Einheimischen   „Akadem“ genannt, war für viele ein Traum, eine Stadt für 65 000 Leute, in der praktisch nur Studenten der Nowosibirker Staatsuniversität, Wissenschaftler aus unterschiedlichen Instituten lebten. Heiß geliebt wurde Akademgorodok nicht nur wegen der schönen Wohnungen im Grünen und wegen der guten Versorgung (was in Nowosibirsk an Lebensmitteln, Kleidung nicht aufzutreiben war, konnten Akademgorodsker problemlos kaufen), sondern wegen der Atmosphäre, ein Kriterium, das in Europa jetzt ein selbstverständlicher Begriff und sogar ein Argument in der Werbung ist,   in der Sowjetunion aber ein Fremdwort war und  im heutigen Russland teilweise immer noch eines ist, das wenig oder kein Gewicht hat. 

Freiheit und moderne Kunst

          Die Atmosphäre in Akademgorodok machten ganz bestimmte Elemente aus, und zwar  konnte man  hier seiner Lieblingsarbeit nachgehen, für die man gutes Geld bekam und für die der Staat alle Bedingungen geschaffen hatte. Und es gab hier einen Luxus, der kaum sonst anderswo in der Sowjetunion zu finden war, das war die Freiheit. Akademgorodok war damals nur der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften  unterstellt, nicht aber  den örtlichen Strukturen, nicht einmal die Kommunistische Partei durfte sich hier einmischen. Denn für Moskau war  das Resultat wichtig, dass nämlich strategische Untersuchungen rechtzeitig erledigt werden. Wie frei es in Akademgorodok zuging, kann man daraus ersehen, dass die erste Ausstellung des verbotenen Malers Michail Schemjakin, und Ausstellungen von Robert FalkPawel Filonow    im Kulturhaus der Wissenschaftler stattfanden, ebenso Konzerte von verbotenen Sängern wie Alexander Galitsch und Wladimir Wysotzky. 

Perestrojka als Sintflut

        Es war "cool", aus Akademgorodok zu kommen, an der Nowosibirsker Staatsuniversität zu studieren, an den Instituten dort zu arbeiten. Bis zur Perestrojka, als auf einmal Wissenschaftler weniger verdienten als eine   Firmen-Sekretärin. Die Wissenschaflter aus Akademgorodok packten deshalb ihre Sachen, ihre Erfahrungen und ihr Ansehen und gingen nach Amerika oder Europa. Das war keine Flucht. Noah  war ja auch nicht geflohen, er hatte nur auf seiner Arche   die Sintflut  überstanden. Als die Umstände es zuließen, kehrten Akademgorodoksker zurück, auf ihren angestammten Boden, nicht alle, aber viele.

IT-Branche als Gegenwart und Zukunft von Nowosibirsk

       Heutzutage hat Akademgorodok sein Ansehen zurückgewonnen, allerdings in einem anderen Bereich, in der IT-Branche. Microsoft und Cisco jagen nach klugen Köpfen unter den Studenten der Nowosibirsker Staatsuniversität bereits im ersten Studienjahr, um nicht zu spät zu kommen, denn die IT ist eine heiß begehrte Branche in Nowosibirsk, in der man tolle Arbeit in einem guten Team finden  oder mit 25-27 nach einem Startup  schon Filialen in der ganzen Welt haben kann. Das sind  ganz reale Geschichte wie bei Dubl Gis, CFTAlawar (casual games), PlaytoxMobisters und vielen anderen. 

Nowosibirsk als Projekt der russischen Intelligenzija

       IT ist der Ausdruck unserer Gegenwart, die auf einer glanzvollen  Vergangenheit des sowjetischen Akademgorodok beruht und eine strahlende Zukunft verspricht, ohne große Worte über Kommunismus, Patriotismus oder ein starkes Russland. Nowosibirsk ist im städtebaulichen Sinn keine gewöhnliche Stadt. Es ist eher ein Projekt dreier Generationen der russischen Intelligenzija, das reiche Früchte trägt.  Es ist eine Art "Kirschgarten" von Tschechow, aber nicht abgehozt, sonder nach Sibirien verlegt.
          An Nowosibirsk kann man den Gesundheitszustand Russlands messen, sogar dessen Zukunft vorhersagen. Wir haben hier kein Öl, kein Gas, kein Gold, nichts von dem, was man häufig Russlands Fluch nennt. Wir haben nur uns selber. Und wie geht es uns dabei heutzutage?
     Wir leben halt hier und sind stolz auf uns, unsere Stadt, in der wir unseresgleichen finden können und das nicht nur online, sondern auch offline. Man trifft sich gerne in den unzähligen Cafes, bei sich zu Hause. Man geht ins Kino, Konzerte, Theater, zu Ausstellungen. Man lebt hier ein interessantes, erfülltes, gefühlvolles Leben. Man kann hier europäisch konsumieren, aber auch seiner geistigen Natur nachgehen und etwas schaffen, was bis jetzt noch keiner gemacht hat. Dafür haben drei Generationen der russischen Intelligenzija gesorgt. Deshalb kann ich mich von dieser Stadt nicht trennen, wenn ich auch unheimlich gerne Berlin mag und die deutsche Kultur über Sprache und europäisches Denken aufgesogen habe. Aber ich gehöre hierher, in die Stadt, wo ich an der Zukunft mitgestalten kann.

Das Ende der Welt erleben


          Das mag für einen Europäer komisch klingen, aber es stimmt trotzdem. Die Stadt, die jemand aus Europa für das Ende der Welt halten kann, bietet so viel an, wie zum Beispiel ein Konzert von Denis Mazujew, in dem er am 21.01.2013 im größten Opernhaus Russlands am nagelneuen Steinway  -Flügel spielen wird. Oder Anfang März wird es bei der  „Nacht in der Metro“  ein Konzert der besten Musiker geben, die in der Metro musizieren werden. Jedes Jahr kann man Mitte Januar  Schneeskulpturen bewundern, die während des internationalen  Schneeskulpturen-Festivals geschaffen werden. Daran schließen sich sehenswerte Ausstellungen von Barbara Klemm oder Arno Fischer  an. Nicht zu vergessen ist das Konzert der 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker  und  die „Messe“ von Bernstein, sowie das jährliche Festival zeitgenössischer Musik "Sibirische Saisons", dessen Name auf die berühmten "Russischen Saisons" hinweist,   und vieles vieles mehr...
        Bekommt man da nicht das Gefühl, das Ende der Welt ist irgendwo viel weiter weg? Und hier ist die eigentliche Welt, hier darf man sein?

 PS. Ich bedanke mich recht herzlich beim Herrn Kiesl und Herrn Schäfer aus dem Forum der russischen Kultur für Ihre Hilfe mit Tat und Rat bei diesem Bericht. Herr Kiesl, der 1.Vosritzende des Forums der russischen Kultur hat mich gebeten, im "Forum Report 2012"  Nowosibirsk vorzustellen. So ist dieser Text entstanden. Inspiration braucht mal  eine extra Einladung:)))